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Wegen der Delta-Variante stehe unser Gesundheitssystem „mit dem Rücken zur Wand“, so ein Experte – und mit Omikron „fährt ein Wagen mit defekter Bremse darauf zu“

Eine Frau testet einen jungen Mann auf das Corona-Virus
Eine Frau testet einen jungen Mann auf das Corona-Virus

Nach ersten Nachweisen der Omikron-Variante in Deutschland gehen Experten davon aus, dass die kürzlich erstmals in Südafrika sequenzierte Variante des Coronavirus bereits länger hierzulande verbreitet wurde als bisher angenommen. Sicher schon über Wochen hinweg hätten Reisende das Virus international verbreitetet, teilte Oliver Keppler, Vorstand am Max von Pettenkofer-Institut der Ludwig-Maximilians-Universität München, auf Anfrage der Deutschen Presse-Agentur (dpa) mit. „Einige Hundert Fälle können es in Deutschland vielleicht sein“, schätzt der Virologe.

Die aktuellen Infektionszahlen in Deutschland könne man jedoch nicht mit Omikron in Verbindung bringen, die seien der Delta-Welle geschuldet, betonte Keppler. Er halte eine größere unentdeckte Omikron-Verbreitung in Deutschland für unwahrscheinlich.

Am Max von Pettenkofer-Institut waren Omikron-Fälle in Bayern nachgewiesen worden. Die Variante war kurz nach ihrem Bekanntwerden von der Weltgesundheitsorganisation (WHO) als "besorgniserregend" eingestuft worden. Inzwischen haben mehrere Länder weltweit Nachweise gemeldet. Gesamtzahlen für Deutschland veröffentlicht das Robert Koch-Institut bisher nicht.

Jetzt bestehe „höchster Handlungsdruck“

„Angesichts der Delta-Infektionsdynamik steht unser Gesundheitssystem in einer Sackgasse ja bereits mit dem Rücken zur Wand“, erklärte Keppler zum möglichen Einfluss der neuen Variante auf die aktuelle Welle. „Nun fährt ein Wagen mit defekter Bremse darauf zu.“ Zwar seien Omikron-Eigenschaften in Hinblick auf Übertragbarkeit, Verminderung der Impfstoff-Effektivität und Krankheitsausprägung noch schwer einzuschätzen. Was bisher bekannt sei, lasse aber eine Verschlechterung der Situation befürchten. Daher bestehe jetzt „höchster Handlungsdruck, die vierte Welle zu brechen“.

Die Virologin Sandra Ciesek vom Universitätsklinikum Frankfurt rechnet damit, dass sich über die Dauer und den Umfang der internationalen Omikron-Verbreitung erst in nächster Zeit mehr sagen lasse. Das werde man in den nächsten Wochen lernen, wenn Labore zum Beispiel Rückstellproben aus den vergangenen Wochen analysierten, teilte sie auf Anfrage der dpa mit. Das RKI kündigte ebenfalls an, in der Vergangenheit gewonnene Genomsequenzen zu analysieren.

Die Tatsache, dass europäische Länder die Variante erst bei Reisenden erkannten, nachdem Südafrika und andere Länder davor warnten, bedeute wahrscheinlich, dass viele Fälle bisher unentdeckt blieben, twitterte der aus Österreich stammende Impfexperte Florian Krammer (Icahn School of Medicine at Mount Sinai, New York) vor einigen Tagen. „Es sagt uns auch viel über die Genomüberwachung in einigen Ländern mit hohem Einkommen.“

Allein die ausgeprägte Delta-Welle fordere „unsere volle Aufmerksamkeit“

Bei der Routine-Überwachung in Deutschland wird von fünf bis zehn Prozent der positiven Corona-Proben das Erbgut genau aufgeschlüsselt. „So würde Omikron auch in Deutschland entdeckt“, erklärte der Verband Akkreditierte Labore in der Medizin (ALM) am Dienstag. Das RKI informiert in seinen Wochenberichten über Ergebnisse dieser Analysen; diese zeigen stets Daten der Vor-Vorwoche. Begründet wird dies mit der „prozessbedingten langen Dauer bis zur Übermittlung der
Sequenzierungsergebnisse an das RKI“.

Wie Omikron die vierte Welle in Deutschland beeinflussen könnte, lässt sich laut der Virologin Ciesek vom Universitätsklinikum Frankfurt bisher nicht seriös abschätzen. „Wir haben derzeit eine ausgeprägte Delta-Welle, das allein ist schon ein großes Problem, welches eigentlich unsere volle Aufmerksamkeit fordert.“ Omikron führe auf jeden Fall zu weiteren Belastungen der Labore.

Herkömmliche PCR-Tests, die in Laboren durchgeführt werden, zeigen auch bei mit Omikron Infzierten ein positives Corona-Ergebnis an. Um welche Variante es sich handelt, bleibt bei diesem Verfahren im Dunkeln. Mit zusätzlichen PCR-Nachtestungen auf bestimmte charakteristische Mutationen können sich Hinweise auf Omikron ergeben, als Bestätigung ist laut ALM derzeit noch eine Gesamtgenom-Analyse nötig.

In Laboren würden aber bereits spezielle Omikron-Kits getestet, sagte Nina Beikert aus dem ALM-Vorstand. „Wir gehen davon aus, dass wir spätestens zum Ende der Woche in der Lage sind, nach der ersten PCR zur Feststellung einer Infektion dann auch die zusätzliche PCR auf die Omikron-Variante durchzuführen.“ Diese hätte dann eine sehr hohe Aussagekraft, dass wahrscheinlich Omikron vorliegt. Der Laborverband kündigte den Einsatz in konkreten Verdachtsfällen an, etwa bei Reiserückkehrern aus bestimmten Regionen oder deren Kontaktpersonen.

Mit so massiven Steigerungen der Übertragungsrate habe kein Virologe gerechnet

Wie häufig variantenspezifische PCR-Tests in den vergangenen Wochen durchgeführt wurden, scheint sich regional sehr zu unterscheiden. Während Ciesek von solchen Tests bei sich im Haus bei jeder Erstdiagnose berichtet, hieß es von ALM-Vorstand Michael Müller, dass dieses Verfahren wegen der großen Dominanz der Delta-Variante zuletzt „im Wesentlichen eingestellt“ gewesen sei.

Der bisherige Pandemieverlauf hat gezeigt, dass vorherrschende Varianten innerhalb relativ kurzer Zeit von ansteckenderen Mutanten abgelöst werden können. Die Alpha-Variante (B.1.1.7) war einige Tage vor Weihnachten 2020 von Berhörden in Großbritannien gemeldet worden. In Deutschland wuchs ihr Anteil zu Beginn des Jahres 2021 immer weiter. Sehr schnell lief nach RKI-Daten der Wechsel hin zur in Indien entdeckten Delta-Variante im Sommer ab. Diese befeuert nach den bisherigen Daten die vierte Welle zu über 99 Prozent.

Sars-CoV-2 habe sich nun schon mehrmals anders verhalten als zunächst von einem Coronavirus erwartet, hatte der Virologe Christian Drosten der dpa im Sommer gesagt. „Alpha und Delta waren absolute Überraschungen.“ Mit so massiven Steigerungen der Übertragungsrate habe kein Virologe gerechnet, sagte Drosten weiter. „Das hat es bisher bei keinem anderen Virus gegeben.“ Ob Omikron eine noch einmal höhere Übertragungsrate bedeutet oder aber andere Vorteile hat – etwa bei der Infektion von Genesenen oder Geimpften, ist derzeit noch unklar.

dpa