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Thyssenkrupps Neustart lässt auf sich warten

Heinrich Hiesinger drückt sich die Holo Lens fest auf die Nase, er kann vom Blick in die Zukunft gar nicht genug bekommen. Rund 60 Ingenieure forschen im Innovationszentrum im spanischen Gijón an Produkten für die Aufzugssparte von Thyssenkrupp. Und wenn der Chef zu Besuch ist, wird alles aufgefahren, was es an neuen Technologien so gibt.

Mit der digital vernetzten Brille Holo Lens können Servicetechniker etwa Reparaturen im virtuellen Raum proben, bevor sie zum Kunden gehen. Wartungsarbeiten an den Aufzügen, die Thyssenkrupp weltweit baut, lassen sich damit präziser durchführen. Das ist nicht nur innovativ, es spart auch Kosten.

Es ist diese Art der Erneuerung, die der 57-jährige Hiesinger so gerne propagiert. Innovationen sollen den Industriekonzern aus Essen mit 156.000 Mitarbeitern in rund 80 Ländern unabhängig vom schwankungsanfälligen und seit Jahren kriselnden Stahlgeschäft machen. Vor allem sollen sie Wachstum bringen und stabilere Ergebnisse.

So vielversprechend, wie die Zukunft noch vor zwei Jahren durch die futuristische Sehhilfe im Techlabor anmutete, sieht die reale Welt des Dax-Chefs allerdings nicht aus. Seit 2011 führt Hiesinger den Industriekonzern, gleich zum Antritt hatte er die Rundumerneuerung versprochen. Doch die lässt auf sich warten.

Der Vorstandsvorsitzende erreicht seine Gewinnziele allenfalls verspätet, der Aktienkurs stagniert, der Cashflow ist negativ, die Nettofinanzschulden stiegen im zweiten Quartal auf 5,8 Milliarden Euro. Hiesinger muss Tausende Mitarbeiter entlassen und sich einer belastenden Stahlsparte möglichst bald entledigen. Hinzu kommen Korruptionsvorwürfe, erdrückende, wieder einmal.

Sein Vertrag läuft noch bis 2020. Noch habe er die Rückendeckung von Aufsichtsratschef Ulrich Lehner, heißt es aus dem Kontrollgremium. Doch Geduld ist auch in Essen ein endliches Gut. Hiesinger müsse „endlich liefern, was er seit Jahren verspricht“, sagen mehrere Aufsichtsräte. Hiesingers Schicksalstage bei Thyssenkrupp haben in diesem Sommer begonnen – ein Drama in zwei Akten, mit Stationen in Indien und Israel und natürlich immer wieder in Essen.

Marode Stahlhütten, hohe Pensionslasten

Schon vor zwei Jahren verkündete Hiesinger, der Stahlmarkt in Europa müsse endlich konsolidieren. Seitdem laufen Verhandlungen mit dem indischen Konkurrenten Tata über eine Fusion der europäischen Stahlgeschäfte der beiden Konzerne. Bis zum Jahresende, so hat Hiesinger neuerdings versprochen, werde er sich vom Stahlgeschäft trennen. Sein Problem: Sein Verhandlungspartner, Tata-Chef Natarajan Chandrasekaran, ist Herr über ein üppig verzweigtes Reich. Es ist ein Geschäft von Chandrasekarans Gnaden.

Der Inder ist ein pragmatischer Stratege, so zumindest beschreiben ihn jene, die ihn kennen. Der 54-Jährige, ein passionierter Marathonläufer, hat zuletzt das Softwaregeschäft von Tata erfolgreich saniert und dafür den Posten an der Spitze des Konglomerats in Mumbai bekommen. Tata Consultancy Services ist der größte IT-Konzern in Asien. Tata baut zudem Autos, Klimaanlagen, Flughäfen, Brücken und Hotels. Und Chandrasekarans Stahlgeschäft in der Heimat läuft besser als in Europa. In Indien hat er die Stahlproduktion sogar erweitert.

Ob es mit der europäischen Stahlfusion klappt, hänge allein von Chandrasekarans Entscheidung ab, ob er sich stärker im Stahlgeschäft in Europa engagieren wolle, heißt es von Insidern in Essen. Wirtschaftlich wäre es sinnvoll, die europäischen Stahlhütten unter ein Dach zu führen. Das brächte Synergien beim Einkauf, bei den Personalkosten, bei Forschung und Entwicklung. Die Frage sei aber, ob Chandrasekarans Aktionäre so „mehr Spaß am Stahl in Europa“ hätten, so ein Insider.

Sicher ist das nicht. Chandrasekaran würde sich einem hochregulierten Markt mit hohen Arbeitskosten, starken Gewerkschaften und hohen Umweltauflagen stärker verpflichten. Und so wie Hiesinger und seine 27.000 Stahlkocher zu kämpfen haben, so hat auch Tata Probleme in Europa. Marode sind vor allem die Hütten von Tata Steel in Großbritannien. Immerhin sanieren die Inder ihr Stahlgeschäft dort.


Bei Hiesinger drängt die Zeit

Größtes Problem beider Verhandlungspartner sind die milliardenschweren Pensionslasten für ihre europäischen Stahlkocher. Die möchte am liebsten keiner der beiden in eine Stahlfusion einbringen. Zusätzlich erschwert der Austritt Großbritanniens aus der Europäischen Union die Verhandlungen: Noch ist nicht klar, welche Auswirkungen der Brexit auf ein gemeinsames Stahlunternehmen hätte.

Um seine Aufsichtsräte und Aktionäre zu befrieden, müsste Hiesinger schon in den kommenden Wochen dem Tata-Chef zumindest eine Absichtserklärung abringen, sagen Insider. Wie eine Fusion dann genau aussähe, darüber könne man sicher noch ein, zwei Jahre verhandeln. Damit hätte Hiesinger immerhin Zeit gewonnen, den Verkauf den eigenen Leuten schmackhaft zu machen. Denn die Arbeitnehmervertreter opponieren gegen Hiesingers Plan.

Unsichere Perspektiven, Brexit, Ärger mit den Arbeitnehmern – bei Hiesinger drängt die Zeit, bei Chandrasekaran nicht. „Er kann Hiesinger seelenruhig mit einem Angebot kommen lassen“, sagt ein Stahlinsider mit tiefem Einblick in die Branche. Schon werde spekuliert, dass Hiesinger am Ende nichts anderes übrig bliebe, als seine Stahlhütten für einen symbolischen Kaufpreis nach Indien zu verschenken, wenn die Inder dafür zumindest die milliardenschweren Pensionsverpflichtungen auf sich nähmen.

Zwischen den Fronten im U-Boot-Deal

Doch auch an einer zweiten Front kochen die Probleme wieder hoch. Als Hiesinger von Siemens nach Essen wechselte, stand der Name Thyssenkrupp wie kaum ein anderer für Seilschaften und Schummeleien. Der Konzern war wegen Kartellen zu Milliardenstrafen verdonnert worden, nichts weniger als den Kulturwandel wollte Hiesinger. Eine seiner ersten Amtshandlungen war, dass er ein Vorstandsressort einrichtete, das die Einhaltung von Geschäftsregeln überwachen sollte: „Für uns ist Compliance vor allem eine Frage der Haltung.“ Doch die stimmt wohl bis heute in Essen nicht.

Seit wenigen Wochen ist Hiesinger erneut in eine Korruptionsaffäre geraten, deren Sprengkraft kaum größer sein könnte. Verheerend für ihn: Er hat die Anschuldigungen in der Affäre um den Verkauf von U-Booten nach Israel zu lange unterschätzt.

Im Zentrum der Affäre steht der israelische Thyssenkrupp-Vertriebsmann Miki Ganor. Er soll bei der Vermittlung eines Deals über drei U-Boote im Wert von zwei Milliarden Dollar gemauschelt haben, die Affäre zieht sich hoch bis zum israelischen Ministerpräsidenten Benjamin Netanjahu. Auch gegen dessen persönlichen Rechtsberater und Verwandten David Schimron wird ermittelt.

Bestätigen sich die Vorwürfe, hängt Thyssenkrupp in einem Politikskandal mit Hollywood-Potenzial fest. Die Bundesregierung hat den U-Boot-Deal auf Eis gelegt. Die schon unterschriftsreife Absichtserklärung werde man vorerst nicht unterzeichnen, heißt es aus dem Verteidigungsministerium.

Doch in Essen wähnte man sich über ein halbes Jahr lang in Sicherheit. Viel mehr noch: Das Rüstungsgeschäft erschien bei allen Beteiligten auf deutscher Seite bis vor Kurzem noch so „weiß wie Schnee“, absolut sauber, sagt ein deutscher Rüstungsexperte. Als die ersten Vorwürfe Anfang des Jahres auftauchten, kündigte Compliance-Chef Donatus Kaufmann den Vertrag von Ganor nicht, sondern legte den Vertrag mit ihm auf Eis, stoppte die Zahlungen an den Mann. Er leitete eine interne Untersuchung ein. Viel zur Aufklärung beitragen konnte Thyssenkrupp bisher nicht. Hinweise auf Korruption seien nicht gefunden worden.

Der Grund für die Ruhe in Essen: Hiesingers Truppe verließ sich auf die Unterstützung der Bundesregierung. Den Deal hatte diese schließlich abgenickt. Und den Israelis finanzielle Hilfe in dreistelliger Millionenhöhe zugesichert, wenn sie bei den Deutschen ihre U-Boote bestellten. Inzwischen sind seit Mitte Juli sieben Personen wegen Bestechung, Betrug und Schmiergeldzahlungen in Israel verhaftet worden. Unter ihnen auch Thyssenkrupp-Mann Ganor, der nun als Kronzeuge gegen Netanjahu aussagen soll.


Hiesinger rettet sich ins Sparen

Hiesinger droht bei all dem zwischen den Fronten zerrieben zu werden. Denn die Sicht der israelischen Behörden und der deutschen Seite könnte unterschiedlicher nicht sein. In Israel selbst ist der U-Boot-Kauf höchst umstritten. Einen solchen Milliardendeal ohne Ausschreibung einfach von oben herab zu entscheiden sei mehr als bedenklich, sagt ein israelischer Insider. Dass mit den Unterseebooten auch gleich noch ein Auftrag über vier Patrouillenboote ohne Ausschreibung an die Deutschen ging, verstoße gegen jegliche Regeln in Israel.

Das sehen mit der Sache vertraute deutsche Insider anders. Deutschland, das sich aus historischen Gründen für die Sicherheit Israels mit verantwortlich fühlt, ist seit Jahren Hauptausrüster der israelischen Marine. Bis ins Jahr 2027 hatte Deutschland für den Kauf der U-Boote rund 570 Millionen Euro Zuschuss veranschlagt, teilte die Bundesregierung noch im Februar mit. Wegen der zugesagten Subventionen der deutschen Regierung habe es aus deutscher Sicht für Netanjahu keinen Grund gegeben, das Projekt auszuschreiben. „Der U-Boot-Deal in Israel stand nie im Wettbewerb“, sagt ein deutscher Rüstungsexperte.

Erst hat er zu lange gewartet, jetzt kommt Hiesinger an Informationen aus Israel kaum noch heran. Mit Ganor dürfen die Deutschen nicht sprechen, um die Ermittlungen nicht zu behindern. Auch zu den Behörden gibt es keinen direkten Draht. Nach Informationen der WirtschaftsWoche hat Thyssenkrupp jetzt immerhin einen Rechtsbeistand vor Ort, die Topanwaltskanzlei S. Horowitz aus Tel Aviv. Zum Stand der Ermittlungen will die sich nicht äußern.

Und auch deutsche Behörden untersuchen den Milliardendeal. Offiziell ermittelt die Bochumer Staatsanwaltschaft nicht gegen Thyssenkrupp in diesem Fall. Doch in der Sache ist eine Akte angelegt, wie eine Sprecherin der Staatsanwaltschaft der WirtschaftsWoche bestätigte. Man sammle alle Informationen zu dem Fall. Ob aus der Rechtssache auch ein Ermittlungsdossier wird, dazu äußert sie sich nicht.

Sparen als Allheilmittel

Für Thyssenkrupp ist der Reputationsschaden ohnehin schon da. In Essen fürchten sie jetzt, weitere Rüstungsaufträge in der Sparte Marine Systems zu verlieren. Aktuell steht etwa ein Vertrag mit Norwegen über eine engere militärische Kooperation an. Die Norweger haben Thyssenkrupp als strategischen Partner für ihre Marine ausgewählt. Bestätigt sich der Korruptionsverdacht, wird es wohl kaum dabei bleiben. In der Sparte brechen ohnehin die Verträge weg. Erst im vergangenen Jahr bestellte Australien statt bei Thyssenkrupp neue Unterseeboote beim französischen Konkurrenten Naval Group (früher DCNS). Hiesinger entging ein Auftrag von rund 35 Milliarden Euro.

Unsichere Aussichten fürs Stahlgeschäft und eine Korruptionsaffäre – Hiesinger rettet sich nun weiter ins Sparen. Mit Effizienzprogrammen hat er in den vergangenen zwei Jahren schon rund zwei Milliarden Euro aus dem Konzern herausgepresst. Den Kurs verschärft er jetzt, kündigte vor wenigen Wochen an, in den kommenden zwei Jahren auch in der Verwaltung rund 400 Millionen Euro zu kürzen – zusätzlich zu den 500 Millionen, die im Stahlgeschäft eingespart werden sollen.

Der Topmanager, der als Wachstumstreiber kam, muss jetzt den Sparkommissar geben. Ob das Eingesparte reicht, um all die schönen Innovationen im Konzern voranzutreiben, mag allein Hiesinger erblickt haben – und sei es durch die Holo Lens.

KONTEXT

Umsatz, Mitarbeiter und Investitionen von Thyssenkrupp nach Sparten

Aufzüge

Umsatz 2015/16: 7468 €

Änderungen zum Vorjahr: +4 %

Anzahl der Mitarbeiter 2016: 51.426

Investitionen 2015/16: 135 Millionen Euro

Vorjahr: 89 Millionen Euro

Quelle: Unternehmen

Industriekomponenten

Umsatz 2015/16: 6807 €

Änderungen zum Vorjahr: +1 %

Anzahl der Mitarbeiter 2016: 30.751

Investitionen 2015/16: 488 Millionen Euro

Vorjahr: 392 Millionen Euro

Anlagenbau

Umsatz 2015/16: 5744 €

Änderungen zum Vorjahr: -8 %

Anzahl der Mitarbeiter 2016: 19.602

Investitionen 2015/16: 75 Millionen Euro

Vorjahr: 22 Millionen Euro

Handel, Dienstleistungen, Logistik

Umsatz 2015/16: 11.886 €

Änderungen zum Vorjahr: -11 %

Anzahl der Mitarbeiter 2016: 19.754

Investitionen 2015/16: 137 Millionen Euro

Vorjahr: 115 Millionen Euro

Stahl Europa

Umsatz 2015/16: 7633 €

Änderungen zum Vorjahr: -12 %

Anzahl der Mitarbeiter 2016: 27.559

Investitionen 2015/16: 400 Millionen Euro

Vorjahr: 458 Millionen Euro

Stahl Amerika

Umsatz 2015/16: 1489 €

Änderungen zum Vorjahr: -18 %

Anzahl der Mitarbeiter 2016: 3847

Investitionen 2015/16: 110 Millionen Euro

Vorjahr: 86 Millionen Euro