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Tatort Daimler – Der jähe Absturz des Dieter Zetsche

Wie oft war Dieter Zetsche nicht schon in Berlin, um mit den Großen der Politik zu reden. Mehr als 20 Treffen mit Kanzlerin Angela Merkel, ihrem Kanzleramtschef oder den Wirtschafts-, Umwelt- und Verkehrsministern hat Zetsche in seinem Kalender vermerkt. Diskret ging es dabei zu, Details der Gespräche blieben vertraulich.

Mal ging es um die Folgen der Finanzkrise, dann um die Elektromobilität, das Eindämmen der Dieselkrise oder um das Ende des quälenden Schiedsverfahrens zwischen dem Bund und dem Mautbetreiber Toll Collect. Stets galt die unausgesprochene Formel: Was gut ist für Daimler, ist gut für die Automobilindustrie, ist gut für Deutschland.

Der Kalendereintrag am 28. Mai 2018, neun Uhr, hat alles verändert. An diesem warmen Frühlingstag muss der Daimler-Chef beim neuen Verkehrsminister Andreas Scheuer (CSU) antreten. Die diskrete Anreise blieb Zetsche dieses Mal verwehrt, ein Pulk von Kameras erwartete den Daimler-Boss und seine Entourage vor dem Ministerium.

Was dann hinter den schweren Sandsteinmauern des 1878 errichteten Gebäudes geschieht, bleibt auch nicht lange vertraulich. Scheuer stellt Daimler ein Ultimatum: 14 Tage Zeit habe Zetsche, um aufzulisten, in wie vielen Fahrzeugen eine unerlaubte Abschalteinrichtung die Abgasreinigung manipuliert. Zetsche notiert sich den Termin für den nächsten Rapport. Zetsches Wunsch, noch über die Zukunft der Mobilität zu sprechen, lehnt der Minister ab. Ende der Audienz.

Genau zwei Wochen später fährt der Daimler-Boss am Montag wieder am Ministerium vor, nimmt erneut die Treppen hinauf in den ersten Stock, geht vorbei am Sekretariat des Ministers und biegt nicht etwa rechts in dessen Büro ab, den Ort für Gespräche auf Augenhöhe. Sondern links in den Konferenzraum, wo ihn ein ovaler Besprechungstisch und eine Staffage mit Europa-, Deutschland- und Bayernfahne erwartet. Schon die offizielle Atmosphäre macht deutlich: Hier wird nicht gekungelt und nicht gekuschelt, hier steht der Staat gegen Daimler.

Dann berichtet Zetsche über die Modelle mit jenen Abgasreinigungssystemen, die das Scheuer unterstellte Kraftfahrt-Bundesamt (KBA) moniert hat, und legt die Zahlen der betroffenen Fahrzeuge vor. Danach tritt Scheuer vor die Öffentlichkeit: 774.000 Mittelklasseautos der C-Klasse, der Van Vito und der Geländewagen GLC müssen amtlich angeordnet in die Werkstatt – und zwar schnell. Nicht für die Öffentlichkeit bestimmt, bekommt Zetsche noch mit auf den Weg: Es wird Untersuchungen über mögliche weitere Manipulationsfälle geben.

Selten ist ein Unternehmenschef in Berlin so schnell so tief in Ungnade gefallen. Aus Zetsche, dem Popstar der deutschen Autoindustrie, dem Retter von Deutschlands traditionsreichster Automarke, dem gefühlten Lieblingsmanager der Kanzlerin ist innerhalb weniger Monate das neue Gesicht der Dieselkrise geworden. Nur noch juristische Spitzfindigkeiten trennen Zetsche und Daimler von dem Eingeständnis, die Abgasreinigung von Millionen Motoren manipuliert, Kunden und Behörden mit geschönten Abgaswerten belogen zu haben. Ein Umstand, den Zetsche stets bestritten hat.

Der Mann, der Daimler in den vergangenen zehn Jahren aus der Krise und der Lethargie des Abstiegs führte, wird nun von den Versäumnissen der vergangenen Jahre eingeholt. Der Gestalter Zetsche ist jetzt ein Getriebener. Die Regie in diesen Tagen haben andere übernommen: die Staatsanwälte in Stuttgart, die Verkehrspolitiker in Berlin.

Dabei wollten Verkehrsminister Scheuer und seine Vorgänger Daimler eigentlich schützen. Schon Anfang 2016, unmittelbar nach dem Ausbruch des Dieselskandals bei VW, hatte das KBA nach Auffälligkeiten im Abgasverhalten anderer Hersteller gefahndet. Immer unter der Leitfrage: Wurde die Abgasreinigung womöglich auch bei anderen Herstellern unberechtigt abgeschaltet, um die Sauberkeit nur auf dem Abgasprüfstand zu simulieren?

Die Beamten konfrontierten die Hersteller mit den Ergebnissen und hofften auf plausible Erklärungen. Im Fall Daimler stoßen die KBA-Experten bei der C-Klasse, bei den Luxuslimousinen der S-Klasse, den Vans der V-Klasse und dem Lieferwagen Sprinter auf Ungereimtheiten. Ende Februar 2016 dann senden sie an Daimler einen Entwurf für die geplante Veröffentlichung.

Der Chef für Zertifizierung und Regulierung im Konzern, Jörg Breuer, antwortete dem KBA zwei Tage später mit einem „Vorschlag“: Sowohl bei der C-Klasse, der S-Klasse und der V-Klasse, ferner beim Sprinter und dem Kleinwagen Smart fortwo erklärten sich die ungewöhnlichen Messergebnisse mit dem „Bauteilschutz“. Mit jener Ausnahme in der Verordnung also, die zum Schutz des Motors ein zeitweiliges Aussetzen der Abgasreinigung erlaube.

Ergo: Die Messergebnisse „bestätigen die Konformität mit der 715/2007 Regularie“, also der EU-Regel, wonach die Abgasreinigung aus technischen Gründen abgeschaltet werden darf, um Motorschäden zu vermeiden. Was gedacht war als eng begrenzte Ausnahmeregelung, wurde faktisch zu einer scheunentorgroßen Lücke in der Regulierung.

Und Daimler hat die Lücke, so viel ist klar, nach Kräften genutzt und Kunden wie Behörden über den wahren Abgasausstoß im Unklaren gelassen. Ethisch ist das nicht zu rechtfertigen. Aber war es auch illegal? Darüber gehen die Ansichten auseinander.

„Zetsche hat gedroht, uns mit Klagen zu überschütten, wenn wir behaupten, dass Daimler bei der Abgasnachbehandlung manipuliert hat“, berichtet ein Beteiligter der Untersuchungskommission. Er gilt im Bundesverkehrsministerium als „härtester Knochen der Branche“.

Also beließ es die Runde bei dem Hinweis auf Auffälligkeiten und stellte klar: „Wenn der Hersteller, wie beabsichtigt, die Maßnahmen ergreift und das KBA sich von der Wirksamkeit überzeugt, würden Zweifel an der Zulässigkeit der Abschalteinrichtung aus Motorschutzgründen nicht weiter bestehen.“ Man könnte auch sagen: Damals kuschte die Staatsmacht noch aus Angst vor den Daimler-Anwälten.

Zetsche und seine Mannen bleiben bei ihrer Linie, doch es wird enger. Ab dem Frühjahr 2017 ermittelt die Staatsanwaltschaft Stuttgart gegen Daimler. Scheuers Vorgänger als Verkehrsminister, Alexander Dobrindt (CSU), weist das KBA an, zwei Mercedes-Motorenklassen genauer zu prüfen. Das KBA in Flensburg und die Ermittler in Stuttgart stehen in engem Austausch. Die Grauzone des „Bauteilschutzes“, so wissen die Aufseher nun, hat Daimler weidlich ausgenutzt, womöglich sogar die Grenze zum Illegalen überschritten.

Zetsche, der stets bestritten hat, dass Daimler manipuliert habe, steckt nun in Erklärungsnot. Contre cœur stimmt er dem Massenrückruf zu. Gleichzeitig will Daimler Widerspruch gegen den Bescheid einlegen. Es ist eine widersprüchliche Position: Zetsche fügt sich faktisch der Behörde, die ihm Betrug unterstellt. Gleichzeitig beharrt er aber darauf, recht zu haben und Kunden und Behörden nicht belogen zu haben. Nach dieser Lesart werden jetzt Hunderttausende technisch einwandfreie Fahrzeuge in die Werkstätten zurückbeordert.

„Wir haben nicht manipuliert.“ Zetsche, seit mehr als 40 Jahren bei Daimler und seit zwölf Jahren an der Spitze des Konzerns, kann nicht anders, als bei dieser Haltung zu bleiben. Mit einem Schuldeingeständnis wäre Zetsche kaum noch an der Spitze des Autokonzerns zu halten. Es wäre das Ende einer großen Karriere. Vielleicht der größten, die die deutsche Autoindustrie je gesehen hat.

1. Der Sanierer

Rückblende ins Jahr 2005. Deutschland galt als kranker Mann Europas, und auch der älteste Autokonzern des Landes hing in den Seilen. Mitte 2005 war Jürgen Schrempps Traum von der großen Welt AG geplatzt. Bereits die als Fusion getarnte Übernahme des US-Autokonzerns Chrysler hatte den in Daimler-Chrysler umfirmierten Konzern überfordert.

Weil Stuttgarter Ingenieure in Kompaniestärke nach Detroit abkommandiert wurden, um dort Entwicklungshilfe zu leisten, litt plötzlich auch die Qualität der Kernmarke Mercedes: Scheibenwischermotoren, schlechte Federungen und mangelhafte Einspritztechnik, die Liste der Klagen ist lang. Als dann auch noch Mitsubishi zum Konzern stieß, hatte sich Daimler-Chrysler endgültig übernommen. Schrempp musste gehen.

Doch statt Schrempps Gegenspieler Eckhard Cordes, damals Chef der Marke Mercedes, erhält Dieter Zetsche den Job. Dem damaligen Chef der Chrysler-Sparte wurde zugetraut, jetzt wenigstens die kleine Version der Welt AG zu retten und die US-Tochter im Konzern zu halten.

Zetsche hatte zu diesem Zeitpunkt tatsächlich das Kunststück vollbracht, Chrysler aus den roten Zahlen zu führen. Der Mann mit dem unverkennbaren Seehund-Schnauzer hatte in den USA hart durchgegriffen und 25 000 Stellen abgebaut. Zugleich war er sich nicht zu schade, als Comicfigur „Doctor Z.“ in Werbespots für Chrysler aufzutreten – mit einer Selbstironie, die einem Deutschen in den USA normalerweise niemand zutraut.

Im heimischen Stuttgart kam das gut an. Die vermeintliche Sanierung von Chrysler sichert ihm das Ticket für den Chefposten. Cordes räumt das Feld.

Noch vor seinem Amtsantritt im Januar 2006 macht Zetsche klar, wo er ansetzen möchte. „Der Konzern ist noch zu hierarchiebetont“, klagt Zetsche dem Handelsblatt. Der Vorstand verlässt die von Schrempp als „Bullshit-Castle“ verspottete Konzernzentrale in Stuttgart-Möhringen und zieht wieder einige Kilometer weiter nach Untertürkheim, gleich neben das Stammwerk.

Die Botschaft ist klar: Bei Daimler geht es nicht mehr um Weltkonzerns- und sonstige Visionen. Es geht darum, endlich wieder gute Autos zu bauen. Zetsche verkündet den Abbau von 8 500 Stellen in der Produktion und 6 000 in der Verwaltung. Die Modellpalette des Verlustbringers Smart wird zusammengestrichen, der Dieselmotorenhersteller MTU verkauft, die Beteiligung an der Airbus-Mutter EADS reduziert. Dennoch: Eine schnelle Wende ist auch Zetsche nicht vergönnt. Erzrivale BMW verkauft nicht nur mehr Autos als Mercedes, die Bayern sind auch profitabler.

Und auch Zetsche selbst wird entzaubert. Denn die Sanierung von Chrysler entpuppt sich als wenig nachhaltig. Kaum ist Zetsche in Deutschland, laufen bei der US-Tochter wieder horrende Verluste auf. Für die Bilanzpressekonferenz lädt Zetsche 2007 zu Chrysler nach Detroit.

Vor Ort dann der Paukenschlag: Daimler werde in Sachen Chrysler „alle Optionen prüfen“ – also auch den Verkauf. Kurz vor der Weltfinanzkrise verkauft Zetsche Chrysler an den Finanzinvestor Cerberus. Eine glückliche Fügung, wie Zetsche später einmal bekennen wird. Mit der maroden US-Tochter am Bein wäre Daimler kaum durch die nun folgende Rezession gekommen.

Auch ohne Chrysler wird es im Jahr 2009 eng genug, Daimler droht die Liquidität auszugehen. Nur durch den Einstieg von Abu Dhabi mit einer Milliardenspritze kann das Schlimmste verhindert werden. Anders als BMW schreibt Daimler in der Krise einen Milliardenverlust.

2. Der Visionär

Erst im Frühjahr 2012 beginnt Dieter Zetsche, die Rolle des Verlierers abzustreifen. Auf dem Autosalon in Genf präsentiert er die neue A-Klasse. Das plumpe Auto in Form eines Minivan galt bislang als Rentnerfahrzeug, dem noch immer der Ärger des Elchtests nachhing: Eine skandinavische Autozeitung hatte 1997 festgestellt, dass das Fahrzeug bei ruckartigen Lenkbewegungen umkippen konnte.

Nun steht stattdessen ein flacher und schnittiger Stadtflitzer auf der Bühne. „A wie Angriff“, schmettert Zetsche vom Podium. Die A-Klasse macht ein Ende mit der aus Blech gebogenen Langeweile fürs letzte Lebensdrittel. Jenem Image, das so vielen Mercedes-Modellen bislang anhaftete.

Der Auftakt für die Neuausrichtung war gemacht, der Erfolg ließ aber auf sich warten. Während die Entwickler nach der kompakten A-Klasse nun auch die oberen Baureihen auffrischten, kam Zetsche immer weiter unter Druck. Die Konkurrenten BMW und Audi waren bei den Verkaufszahlen längst enteilt, und niemand schenkte Zetsches Worten Glauben, dass Daimler im Jahr 2020 wieder Marktführer sein werde. Das Misstrauen gegen den Mann an der Spitze gipfelte im Februar 2013 in einer denkwürdigen Aufsichtsratssitzung.

Die Belegschaft putschte gegen Zetsche: Zu viel an Veränderungen hatte er den Mitarbeitern zugemutet. Zetsche hatte ein Sparpaket über vier Milliarden Euro aufgelegt, die Absätze blieben aber hinter den Erwartungen zurück. Ein neuer Chef sollte her, forderten die Arbeitnehmervertreter im Aufsichtsrat.

Entgegen früheren Aussagen wollten sie den Vertrag von Zetsche nicht um weitere fünf Jahre verlängern. Betriebsratschef Erich Klemm warf Zetsche dem Vernehmen nach vor, dass er nicht ausreichend mit den Beschäftigten kommuniziere. In den USA habe er wohl den Umgang mit den Betriebsräten verlernt. „Zetsche sollte weg“, erinnert sich ein Weggefährte.

Aber der Angezählte konnte sich auf sein Netzwerk verlassen. Aufsichtsratschef Manfred Bischoff sprang ihm zur Seite. Der frühere Daimler-Vorstand war zwar schon über 70 Jahre alt, verstand sich aber darauf, Kompromisse auszuhandeln. Bischoff wirkte mäßigend auf die Gewerkschaftler. Sein Kompromiss: Statt um fünf wurde Zetsches Vertrag nur um drei Jahre verlängert. Nun wusste jeder: Dr. Z. war ein Chef auf Bewährung.

Zetsche hat sein Leben lang bei dem schwäbischen Konzern gearbeitet. Nie hatte er einen Plan B in der Tasche. Er hat gelernt, recht zu behalten, sich durchzusetzen, Opposition aus dem Feld zu räumen. „Von Emotionen darf man sich nicht leiten lassen – das wäre der ganz falsche Weg“, sagte er in Genf. Zetsche geht, wenn auch geschwächt, zur Tagesordnung über. Die Kritik an seiner Fähigkeit zur Kommunikation wischt er als Einzelmeinung zur Seite: „Veränderungen, egal in welchem Umfeld, erzeugen nicht immer nur Begeisterung.“

Er sollte recht behalten. Der Genfer Autosalon 2013 markiert den Tief- und zugleich den Wendepunkt. Nach quälender Verzögerung beginnt der Daimler-Tanker endlich auf den Ruderdruck zu reagieren. Die aufgefrischte Modellpalette zahlt sich aus. In den seitdem vergangenen 63 Monaten kennen die Daimler-Verkaufszahlen nur noch eine Richtung: nach oben. Erst wird Audi und dann auch der ewige Rivale BMW überholt. Sein für das Jahr 2020 angekündigtes und damals von Branchenexperten als unrealistisch bewertetes Ziel kann Zetsche nun fünf Jahre früher als geplant verkünden.

Mit dem Absatz gewinnt Zetsche auch seine Zuversicht zurück, seine Auftritte werden breitbeiniger. Zur Vorstellung der neuen S-Klasse lässt Daimler rund 500 Journalisten aus aller Welt nach Hamburg einfliegen. Für die Präsentation hat Daimler eigens einen Flugzeughangar von Airbus umbauen lassen. Sterneköche versorgen die Gäste mit Häppchen – darunter Fußball-Ikone Franz Beckenbauer. Soulsängerin Alicia Keys fliegt für einen Kurzauftritt aus den USA ein. Vollgestopft mit neuester Technik sei das Luxusmodell die „Ikone des Reisens“, verkündet Zetsche in Hamburg. Bescheiden war gestern.

Die Weltpremiere des Luxusautos lässt sich der Konzern mehr als zehn Millionen Euro kosten, getreu dem neuen Mercedes-Slogan „Das Beste oder nichts“. Die S-Klasse ist für Daimler ein wichtiger Baustein, um einen vernachlässigten Markt zu erobern: China. Unter Vermittlung von Zetsche wird die Zusammenarbeit mit dem Partner BAIC neu aufgesetzt und das Händlernetz neu geordnet. Danach boomt das Geschäft, jede zweite S-Klasse wird seitdem in China verkauft. Daimler fährt Rekordgewinne ein.

Zetsche, so scheint es, hat alles richtig gemacht. Er wird gelassener. Trat er in dem Airbus-Hanger noch mit Anzug und Krawatte vor das Publikum, so tauscht er sein Outfit nun immer häufiger gegen Jeans und Turnschuhe ein. „Mit dem Schlips bin ich nie warm geworden“, bekennt er im Oktober 2016. Und weil vielen bei Daimler die Hierarchie heilig ist, schiebt er vorsichtshalber hinterher: „Das ist keine Dienstanweisung.“

Zetsche tritt nicht nur legerer auf, er zeigt sich auch aufgeschlossen gegenüber Veränderungen. Von einer Reise ins Silicon Valley kehrt er beeindruckt zurück – mit einer Warnung: „Bei neuen Technologien ist typischerweise der Platzhirsch der vorherigen Welt nicht mehr der der zukünftigen.“ Soll heißen: Daimler muss kämpfen, um bei den Zukunftsthemen Elektromobilität, autonomes Fahren und Carsharing nicht abgehängt zu werden.

Die neuen Konkurrenten heißen Tesla, Google und Uber. Nun, da der Turnaround geschafft ist, findet Zetsche in den Jahren 2015 und 2016 seine neue Rolle als Visionär, beseelt von seiner Mission, Daimler fit für eine digitale Zukunft zu machen. Der Frust über den Streit mit dem Betriebsrat ist verflogen. Gut gelaunt kommt er in den meisten Tagen ins Büro, berichten Leute aus seinem Umfeld. Zu einer sicheren Zukunft gehört auch das passende Management für die Ära nach ihm. Das will Zetsche selbst auswählen.

Er sammelt eine Truppe von jüngeren Managern um sich, die das Unternehmen einmal führen sollen. An der Spitze steht Ola Källenius, er soll einmal Zetsches Nachfolger werden. Der smarte Schwede verantwortet im Vorstand zunächst den Vertrieb, dann die Entwicklung. Källenius soll eine umfassende Ausbildung für seine zukünftige Rolle als CEO erhalten.

Zetsche steht im Zenit seines Erfolgs. Er hat recht behalten mit seinen Prognosen. Selbst frühere Widersacher wie Eckhard Cordes zollen ihm Respekt. „Zetsche ist wirklich ein Hands-on-Manager, der sich sehr aktiv um das operative Geschäft kümmert“, sagte der ehemalige Rivale.

Doch mit dem Erfolg verschwinden auch die Menschen aus Zetsches Leben, die ihn noch zu kritisieren wagen. Wolfgang Bernhard war einer der letzten unbequemen Weggefährten. Weil der Leiter der Trucksparte nicht Vorstandschef werden kann, wirft er Anfang 2017 das Handtuch. „Damit ist der Letzte vom Tisch gegangen, der schon mal das Wort gegen den Vorstandsvorsitzenden erhoben hat“, berichtet ein Manager.

Der Öffentlichkeit will Zetsche immer weniger Rede und Antwort stehen. Anfragen nach Interviews lehnt er immer öfter ab. Sucht er die Bühne, dann zu seinen Bedingungen. Mit vorgefertigten Statements stellt er neue Modelle vor und preist die Leistungsfähigkeit seines Konzerns. Ein Stück weit ist diese Haltung nachvollziehbar.

Wie soll ein Manager Journalisten ernst nehmen, die ihn jahrelang runtergeschrieben haben? Zetsche hat schließlich mit dem Radikalumbau vor zwölf Jahren und der Modellwende vor fünf Jahren demonstriert, dass er richtig gelegen hat und die anderen falsch.

Doch dieses gesunde Selbstbewusstsein ist nur einen kleinen Schritt entfernt von der Hybris der Unfehlbarkeit. In dem Stadium übersehen Menschen Warnsignale oder nehmen sie nicht mehr ernst. In diesem hermetisch abgeschlossenen Biotop konnte die Dieselkrise für Daimler zum Dieselskandal heranwuchern – und wird sich nun womöglich zu Zetsches ganz persönlicher Dieselkatastrophe auswachsen.

3. Der Getriebene

Der Herbst 2015 ändert vieles in der deutschen Autoindustrie. Während in Wolfsburg VW-Chef Martin Winterkorn über den Abgasbetrug stolpert, lässt Zetsche seine Motorenentwickler antreten. Ob Mercedes-Motoren ebenso manipuliert worden seien, will der Daimler-Chef wissen. Offenbar reichen ihm die ersten Beteuerungen, dies sei nicht der Fall. Auch bei ersten Nachprüfungen des Kraftfahrt-Bundesamtes bleibt Daimler sauber. „Bei uns wird nicht betrogen, bei uns wurden keine Abgaswerte manipuliert“, sagt der Daimler-Chef Ende Januar 2016.

Eine mutige Aussage. Denn schon kurz darauf flattert eine Sammelklage aus den USA auf Zetsches Schreibtisch – die US-Behörden EPA und CARB prüfen schärfer. „Es sieht so aus, dass Mercedes die betroffenen Bluetec-Fahrzeuge so programmiert hat, dass sie schmutziger sind – wie schon Volkswagen“, erklärt die US-Kanzlei Hagens Berman, die Mercedes-Dieselkunden in den USA vertritt.

Die Argumentation der Kläger: Daimler habe seine Dieselmodelle als besonders umweltfreundlich und sauber beworben. Bei niedrigen Temperaturen seien die gemessenen Stickoxidwerte aber im Schnitt 19-mal höher ausgefallen als in den USA erlaubt. Das US-Justizministerium schaltet sich ein. Die Amerikaner verschaffen sich Zugang zu Unterlagen, die den Prozess der Zulassung von Dieselmotoren für den US-Markt dokumentieren.

Von nun an gerät Zetsche immer mehr in die Defensive. Mitte März 2017 beginnt auch die Staatsanwaltschaft Stuttgart mit ihren Ermittlungen gegen Daimler, die Vorwürfe lauten auf „Betrug“ und „strafbare Werbung“. Büros werden durchsucht, Unterlagen beschlagnahmt. Wenig später verklagen die US-Behörden Fiat Chrysler wegen illegaler Abschalteinrichtungen in ihren Dieselmotoren.

Im Quartalsbericht warnt der Konzern seine Anleger: Für den Fall, dass die US-Behörden zu dem Schluss kommen, dass Daimler ähnliche Vorrichtungen genutzt habe, könnten dem Konzern erhebliche Geldstrafen und Rückrufaktionen drohen.

Zugleich fehlen dem Konzern die Alternativen zum Diesel. Alternativen wie Hybrid- oder Elektroantriebe hat Daimler zu lange vernachlässigt. Im März 2016 präsentiert Tesla-Chef Elon Musk das „Model 3“– ein kompaktes Elektroauto in der Größe der C-Klasse. Binnen weniger Tage verkauft Tesla mehr als 300.000 Stück. Zetsche hat derweil seine Elektromodelle immer weiter nach hinten verschoben.

Im Oktober 2016 dann der vermeintliche Befreiungsschlag: Auf dem Autosalon in Paris stellt Zetsche die Elektromarke „EQ“ vor. Bis 2025 soll ein Dutzend rein elektrische Modelle auf den Markt kommen. „Jetzt legen wir den Schalter um“, ruft Zetsche. Doch die Zeitpläne sind mit heißer Nadel gestrickt. Die Entwickler kämpfen mit dem Starttermin des „EQC“. Das erste Stromauto soll zwar im September vorgestellt werden, kommt aber nicht vor Mitte 2019 auf den Markt.

Die Zahlen stimmen immer noch: Für das abgelaufene Jahr 2017 schließt der Konzern mit einem Gewinnzuwachs von 24 Prozent ab, erstmals verdient Daimler mehr als zehn Milliarden Euro netto. Doch die Börse lassen solche Erfolgsmeldungen mittlerweile kalt. Seit Jahren bleibt die Aktie weit hinter dem Dax zurück.

Eine gefährliche Entwicklung, denn anders als VW oder BMW hat Daimler keinen schützenden Ankeraktionär. Mitte Februar 2018 meldet der Eigner des chinesischen Autokonzerns Geely, dem bereits Volvo gehört, 9,7 Prozent der Daimler-Aktien gekauft zu haben. Mit einem Schlag ist der Chinese der größte Einzelaktionär. „Nichts völlig Ungewöhnliches oder Weltbewegendes“ sei der Geely-Einstieg, versucht der überrumpelte Zetsche zu beschwichtigen. Es ist die Untertreibung des Jahres.

Mit Li Shufu verändert sich die Statik im Daimler-Reich, auch wenn sich der neue Investor demütig gibt. „Daimler ist ein herausragendes Unternehmen mit erstklassigem Management“, erklärte der Geely-Gründer seinen Einstieg. Aber der selbst ernannte „Freund und Partner“ hat auch eine Botschaft: „Es ist Zeit für ein neues Denken. Mein Engagement bei Daimler reflektiert diese Vision.“

Der neue „Freund und Partner“ ist in Stuttgart gut bekannt. Schon vor seinem Einstieg warb er um eine Kooperation zwischen Daimler und der Geely-Tochter Volvo. Daimler ist von dem Angebot wenig begeistert. Zetsche hat mit BAIC bereits einen Partner in China, und Volvo braucht er auch nicht. Doch die Geely-Abgesandten machen mächtig Druck. Mehrere Treffen habe es zwischen den Chinesen und den Stuttgartern bereits gegeben, heißt es. Lange dürfte sich Zetsche dem Ansinnen der Chinesen nicht mehr widersetzen, unken Branchenkreise.

4. Das gefährdete Vermächtnis

Zetsches Vertrag läuft noch bis Ende 2019, mindestens bis zur Hauptversammlung am 27. März kommenden Jahres will er bleiben, heißt es im Konzern. Dann stimmen die Aktionäre über die Gründung einer Holding ab. Künftig soll Daimler als Muttergesellschaft die Aufsicht über drei eigenständige Aktiengesellschaften führen: Eine für Pkws, eine für Lastwagen, eine für Finanzen und Dienstleistungen. Diese Holding-Struktur markiert den Abschluss von Zetsches Umbauplänen. Sein Werk wäre vollbracht.

Auf der gleichen Hauptversammlung, beflügelt von erneut großartigen Zahlen, sollen ihn die Aktionäre in den Aufsichtsrat wählen. Stimmt mehr als ein Viertel der Kapitaleigner dafür, könnte er sogar ohne die zweijährige Abkühlphase direkt in das Kontrollgremium wechseln. Noch vor wenigen Monaten schien dieses Projekt ein Selbstläufer zu sein. Doch nun muss Zetsche um seine Exitstrategie bangen.

Daimler hat mit Geely einen selbstbewussten Investor, der mitreden will. In der Abgasaffäre helfen nur noch juristische Kunstgriffe, um das Eingeständnis des Betrugs zu vermeiden. In den USA feilschen Daimler-Anwälte um einen milliardenschweren Vergleich mit den Dieselklägern, ohne ein Schuldeingeständnis unterschreiben zu müssen.

In Stuttgart ermitteln Staatsanwälte, die ein immer genaueres Bild über die Manipulationsvorgänge bekommen. Noch ist offen, ob der Fall Daimler ähnliche Dimensionen erreicht wie der Fall Volkswagen. Im schlimmsten Fall könnte Zetsche ein ähnlich unrühmliches Ende drohen wie Ex-VW-Chef Martin Winterkorn.

Niemand wolle einen vorzeitigen Wechsel an der Konzernspitze, heißt es in diesen Tagen in Stuttgart. Festlegen will sich aber auch niemand.