Eine Stadt liest ein Buch: Wenn Schiller auf "Sturm der Liebe" trifft

Seattle im nordwestlichen US-Bundesstaat Washington setzte 1998 eine verrückte Idee in die Welt: Im Rahmen der Aktion "If All of Seattle Read the Same Book" (Dt. "Wenn ganz Seattle das gleiche Buch liest") stürzten sich die Leser auf "The Sweet Hereafter" (1991, dt. "Das süße Jenseits") von US-Schriftsteller Russell Banks (78). Die Aktion war ein Erfolg und expandierte. Seit 2001 gibt es "One Book, One Chicago" und viele weitere Städte folgten dem Beispiel.

Vor einem Jahr sorgte New York mit seiner Lese-Aktion für internationale Schlagzeilen: Unter dem Titel "One Book, One New York" waren die Bürger der Millionenmetropole nicht nur eingeladen, sich an dem gigantischen Lesezirkel zu beteiligen. Sie durften das Buch, das alle lesen würden, auch aussuchen. Fünf standen zur Wahl, gewonnen hat "Americanah" der nigerianischen Autorin Chimamanda Ngozi Adichie (40).

Und auch in Deutschland wird seit 2002 "Eine Stadt liest ein Buch" zelebriert. Den Anfang machten Hamburg, Bad Hersfeld, Potsdam, Köln und Hanau...

"Puchheim liest ein Buch"

Seit 20. März läuft wieder eine Aktion in Deutschland und zwar in der kleinen Stadt Puchheim, westlich von München. Initiatorin Nicola Bräunling trommelte Vereine, Initiativen und andere Macher zusammen, die zusammen ein beeindruckendes Programm rund um das zentrale Buch aus dem Boden stampften. Als Buchhändlerin und damit Expertin wählte sie für ihre Stadt den Roman "Glückskind" des Kölner Autors Steven Uhly (53) aus. Noch bis 18. Mai finden Veranstaltungen rund um diesen Titel statt.

Auch die 2. Puchheimer Lesebühne widmete sich am Freitagabend in der Möbelschreinerei Jund dem Thema Glück. Ein glückliches Händchen bei der Auswahl seiner Wortkünstler bewies einmal mehr der kreative Leiter der Veranstaltung, Autor Volker Keidel (*1969, "Bierquälerei: Zum Feiern zu alt, zum Sterben zu jung"). So kehrte Ex-Poetry-Slam-Star Frank Klötgen (*1968) eigens für die Veranstaltung "aus der Rente" zurück und sorgte nicht nur mit seiner poetischen Adaption des Schiller-Gedichts "Der Taucher" (1813) für offene Münder im Auditorium.

Anfang 2017 endete seine einjährige Poetry-Slam-Abschiedstour, während der er stattliche 149 Auftritte in 19 Ländern auf vier Kontinenten absolvierte. Wie es dazu kam und was er auf dieser Reise erlebte, ist nachzulesen in "SLAMMED!: 1 Jahr, 149 Poetry Slams zwischen Hawaii und Madagaskar". Wie seine kunstvoll und sorgfältig gewobenen verbalen Kleinodien wohl im nicht-deutschsprachigen Raum funktionieren, erklärt Klötgen im Gespräch mit der Nachrichtenagentur spot on news: "Das funktioniert sehr gut. Ich habe ein paar Texte auf Englisch übersetzt."

Doch seine Kunst gibt es nicht nur auf Deutsch und Englisch, denn für einen Auftritt auf den Seychellen hat er sogar einen Text in der Landessprache geschrieben. "Das habe ich eingepaukt und dann mit der 13-jährigen Tochter meines Gastgebers abgeglichen", erzählt Klötgen. Und weil das Ergebnis so gut ankam, wurde er gleich nach dem Auftritt für das Festival im nächsten Jahr eingeladen. Warum der gebürtige Essener und Wahl-Münchner so präzise mit Worten jonglieren kann, liegt sicher auch am Training, denn "ich schreibe jeden Tag ein Gedicht, mindestens ein Gedicht", sagt er lachend.

"Sturm der Liebe" durch die Poerty-Slam-Brille

Und was passiert, wenn sich eine Poetry-Slam-Künstlerin wie Katrin Freiburghaus (*1983) die überaus erfolgreiche, von ihren Fans glühend verehrte, aber auch überdurchschnittlich dramatische Telenovela "Sturm der Liebe" vorknöpft, trieb dem Puchheimer Publikum vor Lachen Tränen in die Augen. "Laura ist die Tochter von ihrem bald toten Vater, der gar nicht ihr Vater war" - und in diesem Stil ging es munter weiter.

Lehrer und Jurist vs. Rock-Stars

Und dann waren da noch die beiden Gitarrenvirtuosen Michi und Sepp, die als Zwoa Bier zwischen den literarischen Gängen deftig und bayerisch einheizten. Aktuell sind die beiden 28-Jährigen am Scheideweg ihrer Karriere, wie das Publikum außerdem erfuhr. Zur Auswahl stehen demnach "Lehrer und Jurist" vs. kreative Rock-Star-Karriere - für das Publikum stellte sich diese Frage angesichts der Performance allerdings nicht. Noch nicht entscheiden muss sich dagegen der Jüngste in der Bühnenrunde. Wohin die Reise für den Münchner Gymnasiast Julius Althoetmar gehen dürfte, war nach seinem ersten Wortkunstwerk klar.

Auch Volker Keidel trug wieder einige seiner selbstironischen Texte vor. Mit den Stichworten aus dem Roman "Glückskind", an denen sich die Künstler des Abends orientieren sollten, schuf er unter anderem ein Werk über das Glück, die Moral, Arbeitslosigkeit, finanzielle Not und Einsamkeit/Isolation am Beispiel seines geliebten Hamburger SV.

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