Werbung

So könnten Anreize zur Organspende entstehen

Hätte es vor 26 Jahren diesen unbekannten Menschen nicht gegeben, wäre Angelika Breuer heute tot. Am 26. August 1992 bringt sie in einem Aachener Krankenhaus ihre Tochter Julia zur Welt. Das Kind ist gesund, bei der Mutter aber verschlechtert sich die körperliche Verfassung rapide.

Die Ärzte sind zunächst ratlos. Schließlich wird eine lebensgefährliche Herzmuskelschwäche diagnostiziert, eine extrem seltene Schwangerschaftskomplikation. Nur vier Monate später, im Dezember 1992, bekommt Breuer im Aachener Klinikum in einer achtstündigen Operation das Herz eines Spenders eingesetzt. Über ihren Lebensretter erfährt die junge Frau nur, dass er aus Süddeutschland stammt.

Heute ist Breuer 53 Jahre alt und leitet das Sozialamt der Stadt Baesweiler nahe Aachen. Sie muss Medikamente einnehmen, die verhindern, dass ihr Immunsystem das fremde Herz abstößt; sie hat daher häufig mit Infekten zu kämpfen. Doch insgesamt fühlt sie sich fit, führt ein normales Leben. Und eines wird Angelika Breuer nie vergessen: „Ich habe damals großes Glück gehabt.“

Dieses Glück haben viele nicht. Rund 10.000 Kranke warten in Deutschland derzeit auf ein Spenderorgan. Schätzungen zufolge sterben jeden Tag drei Menschen, die auf der Warteliste stehen. Und die Lage wird immer ernster: Die Zahl der Spender ist in Deutschland 2017 auf den niedrigsten Stand seit 20 Jahren gefallen. Im vergangenen Jahr wurden nach Angaben der Deutschen Stiftung Organtransplantation (DSO) knapp 2600 Nieren, Lebern, Lungen oder Herzen verpflanzt, das sind fast zehn Prozent weniger als im Vorjahr. Auf eine Niere warten Patienten in Deutschland mittlerweile oft mehr als sechs Jahre.

Woran liegt das? In Deutschland gilt wie in den meisten anderen Staaten die sogenannte Zustimmungsregel. Das heißt: Wer im Fall seines Hirntods Organe spenden will, muss dies durch einen Spenderausweis oder eine Patientenverfügung dokumentieren. Hilfsweise dürfen die Angehörigen nach dem „mutmaßlichen Willen“ des Hirntoten entscheiden – so sie denn vom Krankenhaus danach gefragt werden. Das aber passiert im Klinikalltag oft nicht. Insgesamt kommen in Deutschland trotz diverser Kampagnen auf eine Million Einwohner 9,7 Spender. Zum Vergleich: Beim EU-Spitzenreiter Spanien sind es rund 40.

Eine unrühmliche Rolle dürfte dabei der Transplantationsskandal aus dem Jahr 2012 spielen. „Das spukt in vielen Köpfen heute noch rum“, glaubt Angelika Breuer. Damals hatte ein Arzt am Göttinger Universitätsklinikum die Krankenakten von Patienten manipuliert, sodass diese auf der Warteliste für Lebertransplantationen nach oben rückten. Auch in mehreren anderen Kliniken gab es Auffälligkeiten. Doch die Probleme der deutschen Verweigerung liegen tiefer. „Dass unser Organspendesystem nicht gut funktioniert, hat auch ökonomische Gründe“, sagt Annika Herr, Gesundheitsökonomin an der Universität Düsseldorf. „Der Mangel an Spenderorganen lässt sich nur beheben, wenn wir ein neues Anreizsystem schaffen.“

Rund um den Globus machen sich mittlerweile Forscher Gedanken, wie sich die Bereitschaft zur Organspende mit dem Instrumentenkasten der Volkswirte erhöhen lässt. Vom amerikanischen Ökonomie-Nobelpreisträger Alvin Roth etwa stammt die aus der Spieltheorie entliehene Idee eines Tauschrings für Nieren. Das System wurde in den USA bereits in die Praxis umgesetzt; dort ist die Lebendspende von Organen, anders als in Deutschland, auch zwischen Fremden erlaubt. Vereinfacht ausgedrückt, spenden sich Paare, die über ein zentrales Netzwerk zusammengeführt wurden, über Kreuz eine Niere. Der Mann von Paar A spendet also zum Beispiel an die Frau von Paar B, der Mann von Paar B spendet gleichzeitig an die Frau von Paar A. Geld fließt dabei nicht. Dieses System lässt sich auch auf größere Personengruppen übertragen.

Aufbauend auf Roths Forschung, beschäftigen sich auch in Deutschland experimentelle Ökonomen mit dem Thema Organspende – und die Ergebnisse legen nahe, dass man in dieser ethisch sensiblen Frage nicht allein auf menschlichen Altruismus setzen sollte. Offenbar lässt sich die Motivation zur Organspende erhöhen, wenn Spender einen persönlichen Vorteil erwarten können.

Die Wissenschaft diskutiert vor diesem Hintergrund vor allem die sogenannte Prioritätsregel. Danach erhalten Kranke schneller ein Spenderorgan, wenn sie ihrerseits als Organspender registriert sind. Ein solches System ließe sich relativ problemlos implementieren, weil die Organvergabe einer Punkteskala folgt. Sie bildet neben der Wartezeit unter anderem die medizinische Dringlichkeit, die Gewebeeigenschaften und die Länge des Transportwegs ab.

Ökonomin Herr und ihr Düsseldorfer Kollege Hans-Theo Normann haben die Effekte einer Prioritätsregel in einem Laborexperiment mit 192 Probanden untersucht; die Studie wurde im „Journal of Economic Behavior and Organization“ veröffentlicht. In drei Phasen und in mehreren Durchgängen mit unterschiedlicher Konstellation mussten sich die Teilnehmer entscheiden, ob sie sich als Spender registrieren lassen. Dabei lag die Spenderquote ohne Prioritätsregel bei 40 Prozent, mit ihr bei 68 Prozent. Fazit der Autoren: Ein solches Verfahren „könnte sich als wirksames Instrument herausstellen, die sehr niedrige Spendenbereitschaft zu steigern“.


"Eine Spende ist ein Geschenk und muss ein Geschenk bleiben"

Allerdings haben sich weltweit erst drei Staaten für ein solches System entschieden: Israel, Chile und Singapur. Zu groß ist die Angst vor Missbrauch, zu laut auch sind die Mahnungen von Ethikern. Der von der Bundesregierung eingesetzte Ethikrat etwa lehnt Prioritätsregeln wegen eines „Gerechtigkeitsproblems“ ab: Wer sich zum potenziellen Organspender erkläre, so das Argument, könne davon kurz vor seinem Tod wieder zurücktreten und „hätte zeitlebens die Option gehabt, bei eigener Bedürftigkeit bevorzugt ein Organ zu erhalten“.

Das Thema ist also ethisch heikel – erst recht, wenn die Frage gestellt wird, ob zwischen Spender und Empfänger Geld fließen darf, ob also zum Beispiel der Empfänger die Beerdigungskosten des Spenders übernehmen sollte. Damit ließe sich womöglich die Zustimmung knickriger Anverwandter zur Organentnahme erkaufen, eine moralisch schwer erträgliche Vorstellung. Andererseits: Darf man aus übergeordneten ethischen Erwägungen heraus verhindern, dass ein Schwerkranker ein Spenderorgan erhält, das sein Leben rettet?

„Eine Spende ist ein Geschenk und muss ein Geschenk bleiben. Daher sind finanzielle Anreize der falsche Weg“, sagt Axel Rahmel, Medizinischer Vorstand der DSO. Darüber gebe es einen weltweiten Konsens. Auch der Ethikrat warnt vor einer „Kommerzialisierung des menschlichen Körpers“.

Genau darin freilich sehen einzelne Ökonomen wie der 2015 verstorbene Gesundheitsökonom Peter Oberender von der Universität Bayreuth eine Chance. Sie fordern, den Handel mit Organen zu legalisieren, ihn als Markt zu betrachten, bei dem Angebot und Nachfrage über den Preis ins Gleichgewicht kommen. Den Vorwurf, dies sei ethisch unvertretbar, konterte Oberender mit dem Hinweis, der illegale Organhandel sei in vielen Entwicklungs- und Schwellenländern längst Realität – und für „Verkäufer“ ohne adäquate medizinische Versorgung lebensgefährlich. Sei das Verfahren transparent, entstehe eine „Win-win-Situation“, so Oberender: Die Organgeber erhielten einen fairen Preis und medizinische Versorgung, zugleich könne vielen Menschen dank des zusätzlichen „Angebots“ das Leben gerettet werden.

Allerdings dürfte selbst ein legaler Organhandel vor allem eine Richtung kennen – von armen Staaten weg in reiche. Weniger konfliktträchtig als ein solcher Gesundheitsimperialismus ist daher eine andere Möglichkeit, die Zahl der Organspender zu erhöhen. In einer Reihe von Staaten, etwa in Frankreich, Polen, Portugal, Österreich und der Schweiz, ist man automatisch potenzieller Organspender – es sei denn, man widerspricht. Vergangenen Dienstag verabschiedete auch das niederländische Parlament mit knapper Mehrheit ein entsprechendes Gesetz.

Ein solcher Umgang mit Organspenden lehnt sich an das verhaltensökonomische Konzept des „Nudging“ an. Dabei versucht der Staat, durch gezieltes „framing“ eines Themas seine Bürger in eine gewünschte Richtung zu „stupsen“, ohne sie ihrer Wahlfreiheit zu berauben. Derartige staatliche Bevormundung mag nicht jeder. Empirische Studien zeigen aber, dass in wirtschaftlich vergleichbaren Staaten, die auf die Widerspruchslösung setzen, die Spenderraten höher sind als bei der deutschen Zustimmungsregel.

Auch institutionell und organisatorisch lassen sich bei der Organspende noch Effizienzpotenziale heben. Jährlich gibt es rund 60.000 Hirntote in Deutschland, bei denen eine Organentnahme juristisch erlaubt wäre. Doch nicht immer klappt das Zusammenspiel zwischen den rund 1300 zur Organentnahme zugelassenen Krankenhäusern, den Transplantationskliniken und der DSO, die das Verfahren koordiniert und begleitet. „Es werden zu wenig potenzielle Spender von den Krankenhäusern gemeldet, weil dies für sie mit hohem Aufwand verbunden ist“, kritisiert Ökonomin Herr. Zudem werde „nirgendwo erfasst, ob und wie viele Menschen einen Organspendeausweis im Portemonnaie herumtragen“. Nötig sei daher ein zentrales Organspender-Register.

Zwar schreibt das deutsche Transplantationsgesetz vor, dass jedes Entnahmekrankenhaus einen Transplantationsbeauftragten benennen muss; für dessen Arbeit erhalten die Kliniken insgesamt 18 Millionen Euro im Jahr. Im hektischen Alltag auf den Intensivstationen scheinen viele diesen Nebenjob aber nicht übermäßig intensiv ausfüllen zu können. „Die Transplantationsbeauftragten sollten in notwendigem Umfang freigestellt werden“, fordert daher DSO-Vorstand Rahmel. In Bayern ist das seit 2017 gängige Praxis – und die Zahl der Organspender seitdem um 18 Prozent gestiegen. Laut Rahmel ließe sich die Zahl der Spender um die Hälfte erhöhen, wenn „am Lebensende vor dem Abbruch der Behandlung generell an das Thema Organspende gedacht und mit den Angehörigen besprochen würde“.

Angelika Breuer, die Frau mit dem fremden Herzen, bedarf solcher Appelle nicht mehr. Sie trägt seit vielen Jahren selbst einen Organspendeausweis im Portemonnaie. „Auf diese Weise“, sagt sie, „kann ich vielleicht irgendwann die Hilfe, die mir zuteil wurde, für einen anderen Menschen leisten.“