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Roger Willemsen: Der Mann mit dem Grips ist fort

Roger Willemsen bei einer Veranstaltung in Hamburg im Jahr 2014

Dem Tod in den Schlagzeilen zu entkommen, das ist 2016 besonders schwer: Krieg und Krisen aller Orten - und dazwischen immer wieder das Ableben echter, großer Künstler. Wenn zwischen all den Todesfällen Abstufungen überhaupt noch machbar sind, dann ist die Todesnachricht des 8. Februar eine besonders betrübliche: Gestorben ist Roger Willemsen (1955-2016). Einer der wenigen Intellektuellen Deutschlands, die nicht nur gesprochen haben, sondern denen bisweilen sogar gerne zugehört wurde - und dann der Tod mit gerade einmal 60 Jahren und in einer Zeit, in der Willemsen sicher noch das ein oder andere zu sagen gehabt hätte.

Am Sonntag ist Willemsen in seinem Haus bei Hamburg an den Folgen seiner Krebserkrankung gestorben, wie es heißt. Erst im Sommer hatte die Öffentlichkeit - und offenbar auch Willemsen - von der Krankheit erfahren. Auf seinen letzten Foto-Porträts sah Willemsen nicht krank aus. Sondern hatte immer noch einen jugendlich-spitzbübischen Zug im Gesicht. Den grauen Haaren zum Trotz. Gut möglich, dass Willemsens Beruf ihm bei der Konservierung der Jugendlichkeit geholfen hat: Bücher, Essays und Artikel schreiben, mit Menschen sprechen, Interviews führen... Aber nur über Dinge, die wichtig sind: "Ich hatte immer die Vorstellung, dass Intellektualität sich dann richtig entfaltet, wenn sie einen Moment des Emotionalen hat, eine Klugheit des Fühlens. Und Leidenschaft auslöst", sagte Willemsen einmal dem "Hamburger Abendblatt".

Kannibalen und Audrey Hepburn

"Publizist" lautete die offizielle Bezeichnung für die Tätigkeit. Alleine schon dieser leicht aus der Zeit gefallene Titel verweist darauf, dass Willemsen ein ungewöhnlicher Geist war: Publizisten veröffentlichen - nicht, weil sie einen Arbeitsvertrag und ein fertiges Konzept vorgesetzt bekommen, sondern weil sie etwas zu sagen haben, mal hier, mal dort. Willemsen hatte in den letzten Jahren Bücher geschrieben - über den Zustand der deutschen parlamentarischen Demokratie, über die Missstände in Guantanamo oder Berichte aus Afghanistan - im Fernsehen über Literatur gesprochen und im Radio anspruchsvolle Musik aufgelegt.

Am meisten erzählt aber doch vielleicht ausgerechnet das Medium Fernsehen über Willemsen: Denn bekannt wurde er dort. Anfang der 90er mit der Talkshow "0137" bei Premiere - vom Ex-RAF-Mitglied über einen Kannibalen bis Audrey Hepburn sprach er mit allen und entlockte fast allen etwas Bedenkenswertes. Später kamen "Willemsens Woche" im ZDF und einige andere Sendungen. Und obwohl Willemsen nach eigenen Angaben froh war, Anfang der 00er-Jahre dann wieder weniger im TV aufzutauchen, sagt sein Blick auf das Fernsehgeschehen doch einiges: Schlagzeilen machte der Publizist zum Beispiel mit einer Hasstirade auf Heidi Klums "GNTM" - und einer gewissen, distanzierten Sympathie fürs Dschungelcamp.

"Der Exzess der Nichtigkeit aber erreicht seinen Höhepunkt, wo Heidi Nazionale mit Knallchargen-Pathos und einer Pause, in der man die Leere ihres Kopfes wabern hört, ihre gestrenge 'Entscheidung' mitteilt, und wertes von unwertem Leben scheidet", urteilte Willemsen 2009 in der "taz" über Klums Modelshow: "Da möchte man dann elegant und stilsicher, wie der Dichter sagt, sechs Sorten Scheiße aus ihr rausprügeln - wenn es bloß nicht so frauenfeindlich wäre." Der Shitstorm ließ nicht lange auf sich warten.

Lieber Marolt als Mainstream

Fünf Jahre später hatte Willemsen in der "SZ" einen Artikel über das Dschungelcamp am Wickel. Und brach eine Lanze für Larissa Marolt, die er als eine "Lebendige" empfand, im Vergleich zum sonstigen stumpfen Mainstreamfernsehen. Auch das Camp an sich fand er bei allem grundsätzlichen Befremden gar nicht so schlimm: "So richtet sich die Ironie der Sendung immer auch gegen diese selbst, und im Zweifelsfall liefert sie die Kritik gleich mit - bemerkenswert in einem Medium, das sonst fast keine Selbstkritik kennt und keine Menschen wie Larissa."

Was das nun sagt? Willemsen hat nicht gezögert, mit Leidenschaft Dinge zu kritisieren, die er unmenschlich fand. Und dass es nicht immer nur die offensichtlichen Missstände waren, die er zu Gehör brachte, machte das Ganze nur noch spannender. Obendrein war Willemsen wohl einer der wenigen Deutschen, die problemlos mehrere Zeilen umfassende Sätze korrekt formulieren konnten - und das sogar mündlich und ohne Vorbereitung, wie jeder bezeugen kann, der einmal mit Willemsen geredet hat. Genauso wie das Schelmentum und die Selbstironie Willemsens. Noch vor einem Jahr blödelte der Intellektuelle aufs Herrlichste mit Jan Böhmermann.

Nun ist Willemsen überraschend gestorben - und Ersatz ist nicht in Sicht. Auf Twitter trauerten und wütenden die unterschiedlichsten Charaktere über den Verlust des Intellektuellen: "Mit Verlaub, 2016, Sie sind ein Arschloch", postete der Internet-Punk Sascha Lobo. Pop-Star Jan Delay beschränkte sich auf einen weinenden Smiley. Und der Ex-Linke-Fraktionschef Gregor Gysi ehrte Willemsen ebenso wie der FDP-Vorsitzende Christian Lindner - eine seltene Koalition. Aber den Denker Willemsen schätzten eben beide.

Foto(s): ddp images