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Richter verschonen Nahles' Tarifeinheitsgesetz

Das umstrittene Tarifeinheitsgesetz von Arbeitsministerin Andrea Nahles (SPD) hat im Kern Bestand. Das Bundesverfassungsgericht wies am Dienstag die Klagen mehrerer Gewerkschaften gegen die seit rund zwei Jahren geltende Neuregelung weitgehend ab. Die Karlsruher Richter machen aber zahlreiche Vorgaben für die genaue Anwendung des Gesetzes. In einem Punkt muss der Gesetzgeber bis Ende 2018 nachbessern (Az. 1 BvR 1571/15 u.a.).

Das Gesetz sieht vor, dass bei konkurrierenden Tarifverträgen in einem Betrieb allein der Abschluss mit der mitgliederstärksten Gewerkschaft gilt. Der Unterlegene kann sich diesen Vereinbarungen nur durch nachträgliche Unterzeichnung anschließen. Wer die meisten Mitglieder hat, das sollen im Zweifel die Arbeitsgerichte entscheiden.

Die Richter stellen fest, dass das Gesetz in die Koalitionsfreiheit eingreift und Grundrechte beeinträchtigen kann. So habe es die schwächere Gewerkschaft im Betrieb womöglich schwerer, Mitglieder zu werben und zu mobilisieren. Das Streikrecht sei aber nicht in Gefahr. Grundsätzlich sei der Gesetzgeber befugt, Strukturen zu schaffen, „die einen fairen Ausgleich zwischen den Interessen aller Arbeitnehmer eines Betriebes hervorbringen“, sagte Vizegerichtspräsident Ferdinand Kirchhof bei der Verkündung.

Das Urteil ist trotzdem alles andere als ein Freifahrtschein. Der Senat sieht das Risiko, dass die Interessen kleinerer Berufsgruppen wie Piloten oder Krankenhausärzte unter den Tisch fallen. Hier muss der Gesetzgeber noch Vorkehrungen schaffen.

In anderen Punkten nehmen die Richter die Arbeitsgerichte in die Pflicht und machen verbindliche Vorgaben. Sie sollen beispielsweise dafür Sorge tragen, dass kein Arbeitnehmer Zusagen verliert, auf die er bei der Lebensplanung fest vertraut hat. Dazu gehören die Altersvorsorge, eine Arbeitsplatzgarantie oder die Lebensarbeitszeit. Unklare Regelungen im Gesetz, wie die Nachzeichnung eines Tarifvertrags funktionieren soll, legt der Senat in einer Weise aus, die die unterlegene Gewerkschaft möglichst wenig belasten soll.

Der Arbeitsrechtsprofessor Gregor Thüsing aus Bonn sagte dem Handelsblatt: „Das Gericht hatte erkennbar verfassungsrechtliche Bauchschmerzen.“ Im zentralen Befund sei man sich einig gewesen: Das Gesetz ist in seinen wesentlichen Regelungen verfassungskonform. „Es fehlt jedoch der Schutz der übergangenen Minderheit“, so Thüsing. „Weil der Wettbewerb der Gewerkschaften eingeschränkt wird, muss die Gewerkschaft sicherstellen, dass sie auch die Minderheiten angemessen in ihrem Tarifabschluss berücksichtigt. Dass dies immer gewährleistet wird, muss nun der Gesetzgeber nachbessern.“

Die mit-klagende Gewerkschaft Cockpit sieht sich trotz der weitgehenden Niederlage bestätigt. „Diktat der Großgewerkschaften vom Bundesverfassungsgericht abgelehnt“, twitterte Vorstandsmitglied Jörg Handwerg.

Der Chef der Lokführergewerkschaft GDL, Claus Weselsky, sagte in Karlsruhe: „Der Angriff auf Berufsgewerkschaften ist in erster Linie abgewehrt. Wir hätten uns allerdings eine klarere Entscheidung gewünscht, nämlich ein klares Zurückweisen des Gesetzes.“ Für die GDL gehe von dem Gesetz nach den Vorgaben des Gerichts allerdings keine Gefahr aus: „Die nächsten 150 Jahre sind bei uns gesichert.“ Kritiker hatten Arbeitsministerin Andrea Nahles (SPD) vorgeworfen, mit dem Gesetz vor allem die Bahnstreiks der GDL stoppen zu wollen.

Als „schwer nachvollziehbar“ kritisierte der Vorsitzende des Beamtenbunds dbb, Klaus Dauderstädt, das Urteil. Die vom Gericht geforderten Änderungen und Ergänzungen würden das Gesetz kaum praktikabler machen. „Auf die Arbeitsgerichte kommen enorme Belastungen zu.“ Auch in neuer Form verschärfe das Gesetz die Konkurrenz zwischen den Gewerkschaften. Der dbb erwäge eine Klage vor dem Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte.

Verdi-Vizechefin Andrea Kocsis sagte: „Wenig Licht, viel Schatten.“ Die Lösung von Tarifkonflikten überlasse das Gericht den Arbeitsgerichten. „Uneinheitliche Urteile und unzählige Prozesse drohen zu jahrelanger Rechtsunsicherheit zu führen.“ Der Chef der Ärztegewerkschaft Marburger Bund, Rudolf Henke, sagte: „Wir fühlen uns als Berufsgewerkschaft gestärkt und anerkannt.“ Nun müssten Arbeitsgerichte und Gesetzgeber die Vorgaben des Gerichts berücksichtigen. Der Präsident der Piloten-Vereinigung Cockpit, Ilja Schulz, kritisierte, kleine Gewerkschaften müssten weiter fürchten, durch eine größere verdrängt zu werden.


Wirtschaft begrüßt Entscheidung

Bei der Wirtschaft stößt das Karlsruher Urteil zum Tarifeinheitsgesetz auf Erleichterung. „Das positive Signal von der heutigen Entscheidung ist, dass auch künftig Arbeitgeber und Arbeitnehmer wissen, welcher Tarifvertrag für sie gilt und angewendet werden kann“, sagte Arbeitgeberpräsident Ingo Kramer am Dienstag in München. Widersprüchliche Regelungen für dieselbe Arbeitnehmergruppe blieben damit ausgeschlossen. „Heute ist ein guter Tag für die Soziale Marktwirtschaft.

Der Präsident des Arbeitgeberverbands Gesamtmetall, Rainer Dulger, sagte, ohne Tarifeinheit wäre der Flächentarif wertlos - „wenn trotz gültiger Tarifverträge Spartengewerkschaften jederzeit einen Betrieb durch Arbeitskampfmaßnahmen lahmlegen könnten“. Hier habe das Gericht die „sorgfältig austarierte Lösung“ der Bundesregierung bestätigt.

Deutsche-Bahn-Personalchef Ulrich Weber lobte, dass das Gesetz im Kern Bestand habe und „dass es nun Rechtssicherheit gibt“. Der Weg der Bahn, mit zwei Gewerkschaften für eine Berufsgruppe gleiche Bedingungen zu schaffen, sei vom höchsten Gericht bestätigt worden.

Nach massiven Streiks hatten Bahn und Lokführergewerkschaft GDL 2015 einen Tarifstreit per Schlichtung beigelegt. Dabei wurden weite Teile eines zuvor von der Konkurrenzgewerkschaft EVG ausgehandelten Tarifergebnisses übernommen. Weber sagte, nun werde die Bahn den Tariffrieden nutzen, um bis Ende 2018 mit beiden Gewerkschaften über die künftige Zusammenarbeit im Sinne des Urteils zu sprechen.

Der Präsident des Bundesverbands mittelständische Wirtschaft, Mario Ohoven, begrüßte, dass das bestätigte Gesetz die Möglichkeiten von Spartengewerkschaften beschränke, „das gesamte Wirtschaftsleben in unserem Land lahmzulegen“.

Die Bundesregierung will mit dem Gesetz aufreibende Machtkämpfe verhindern. Das Gesetz soll dafür sorgen, dass sich Rivalen von vornherein an einen Tisch setzen und sich abstimmen. Unter den kleineren Gewerkschaften gibt es breiten Widerstand, sie fürchten um ihre Durchsetzungskraft. In Karlsruhe sind elf Verfassungsklagen gegen die Tarifeinheit anhängig, über fünf davon hat der Erste Senat nun stellvertretend entschieden.

Anlass für die Neuregelung war ein Urteil des Bundesarbeitsgerichts von 2010, das verschiedene Tarifverträge nebeneinander möglich machte. Mit dem Gesetz will Nahles zurück zu der über Jahrzehnte gängigen Praxis nach dem Motto „ein Betrieb - ein Tarifvertrag“.