Warum diese Tennis-Sensation der Weltelite Angst macht

Warum diese Tennis-Sensation der Weltelite Angst macht

Als der Italiener Lorenzo Giustino bei seinem Erstrundensieg gegen Corentin Moutet aus Frankreich nach einem Fünf-Satz-Krimi den Matchball versenkte, zeigte die Spieluhr sechs Stunden und fünf Minuten an.

Es war das längste Match der diesjährigen French Open und das zweitlängste in der Geschichte des Turniers. (Spielplan und Ergebnisse der French Open 2020)

Iga Swiatek stand sogar noch länger auf dem Platz, nämlich exakt sieben Stunden. Allerdings nicht in einem Match, sondern bei ihrem gesamten Siegeszug durch die Einzelkonkurrenz bei den Damen, der sie durch ein 6:2, 6:1 gegen die argentinische Qualifikantin Nadia Podoroska bis ins Finale spülte.

Swiatek fegt Halep ab

Ihre bisherigen sechs Gegnerinnen, darunter so klingende Namen wie die zuletzt wieder erstarkte Eugenie Bouchard und die an 1 gesetzte Simona Halep, fertigte sie ohne einen einzigen Satzverlust ab. Insgesamt verlor die 19-Jährige bei diesem Turnier nur 23 Spiele. Ihr schlechtester Satz war ein 6:4 in Runde zwei gegen die Taiwanesin Su-Wie Hsieh. Sogar Halep schickte sie im Achtelfinale mit 6:1, 6:2 heim.

Was Swiateks Leistung bei Roland Garros noch bemerkenswerter macht: Auch im Doppel steht sie mit ihrer Partnerin Nicole Melichar aus den USA im Halbfinale - ebenfalls ohne einen einzigen Satzverlust.

Es ist eine der dominantesten Vorstellungen, die es beim Grand Slam in Paris jemals gegeben hat. Mit kraftvollem und aggressivem Tennis lässt sie nicht nur die Experten staunen.

"Ich bin schon überrascht. Ich hätte vorm Turnier nie gedacht, dass ich hier so gut spielen würde", stellte die Polin nach ihrem Sieg im Halbfinale am Donnerstag fest: "Andererseits wusste ich: Wenn ich es jemals in ein Grand-Slam-Finale schaffen würde, wäre es in Roland Garros. Ich liebe es hier. Es ist ein Traum, der in Erfüllung geht."

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Fibak: "Iga spielt mit allen wie mit Junioren"

Außergewöhnlich sind nicht nur die Statistiken, auch die Spielweise strotzt vor Dominanz. "Iga spielt mit allen wie mit Junioren. Und die Kluft zwischen Iga und ihren letzten beiden Rivalinnen (Martina Trevisan und Podoroska, Anm. d. Red.) war riesig", bringt es Wojciech Fibak, zweimaliger Viertelfinalist der French Open, in der polnischen Sportzeitung Sport auf den Punkt.

"Iga kommt raus und schlägt. Es gibt keine Gnade", ergänzte Fibak.

Auch ihr Trainer, Piotr Sierzputowski, charakterisiert seinen Schützling ähnlich. "Sie ist ein Biest im Wettbewerb", sagte der Ex-Profi.

Swiatek findet Training langweilig

Dabei schaut es im Training ganz anders aus. Sierzputowski verrät, dass Swiatek sich bei Übungseinheiten bisweilen langweilt. "Ich habe mit ihr sowohl auf der technischen als auch auf der taktischen Seite viel zu tun. Wir haben noch viel Raum für Verbesserungen. Aber insgesamt spielt das keine Rolle. Wenn sie auf den Platz kommt, setzt sie den Ball genau dorthin, wo sie will", erklärte der Tennis-Coach.

Auch Swiatek selbst sieht ihre Stärken trotz ihres jungen Alters im psychischen Bereich. "Die mentale Stärke ist das Wichtigste im Tennis. Und die, die den Druck aushalten, sind die Besten", sagt sie. Das weiß sie nur zu gut, was in der Weltspitze den Unterschied ausmacht.

Geholfen hat ihr dabei, dass sie seit kurzem mit der Psychologin Daria Abramowicz zusammenarbeitet. "Sie hat mich cleverer gemacht. Ich weiß durch sie mehr über mich und das übertrage ich in das Match. Ich weiß mehr über Sport und ich weiß mehr über Psychologie und ich kann meine eigenen Gefühle verstehen und ich kann sie laut aussprechen. Sie steigert mein Selbstvertrauen", betont Swiatek, die sich als großer Fan von French-Open-Rekordsieger Rafael Nadal geoutet hat.

Das offene Eingeständnis, aus dem Swiatek-Lager, dass das Wunderkind noch viele Schwächen hat, muss der Weltelite noch mehr Angst machen. Was von Mentalitätsmonsterchen Swiatek wohl noch kommt, wenn sie ihre Schwächen erstmal abstellt?

Großer Sprung in der WTA-Weltrangliste

Durch ihren Finaleinzug steht fest, dass sie nach dem Turnier auf jeden Fall zu den Top 25 der Tennis-Welt gehören wird. Im Februar dieses Jahres war sie noch auf Rang 48 zu finden. Die Saison 2017 beendete sie als 690. der WTA-Rangliste.

Erstmals schrieb sie 2018 Schlagzeilen, als sie das Olympische Doppel-Turnier bei den Junioren-Spielen in Buenos Aires gewann. Im selben Jahr triumphierte sie auch bei der Junioren-Konkurrenz in Wimbledon.

Das Talent für sportliche Höchstleistungen hat sie von ihrem Vater Tomasz Swiatek geerbt, der Polen bei Olympia 1988 in Seoul als Ruderer vertrat.

Dennoch musste seine Tochter ihren Platz auf der WTA-Tour hart erarbeiten. Wildcards für große Turniere waren ihr kaum vergönnt.

Swiatek gegen Kenin im Finale der French Open

"Am Anfang war es ziemlich ärgerlich, wenn man aus Ost- oder Mitteleuropa kommt, ist es vielleicht etwas schwierig, Wildcards zu bekommen, weil wir in Polen keine großen Turniere haben", verriet Swiatek und fügte hinzu: "Sobald ich das akzeptiert hatte und mir klar wurde, dass es noch besser ist, wenn ich mir die Wildcards selbst verdienen kann, war ich damit einverstanden. Ich habe einfach weitergearbeitet."

Wohin sie diese kämpferische Einstellung geführt hat, sieht man in diesen Tagen auf den Ascheplätzen der französischen Hauptstadt.

Am Samstag will der AC/DC- und Pink-Floyd-Fan auch das Finale rocken. Wenn Swiateks Serie hält, wird das Spiel gegen die US-Amerikanerin Sofia Kenin nach zwei Sätzen und gut einer Stunde Spielzeit zu Ende sein und Swiatek ihre erste Trophäe bei einem Grand Slam in die Luft recken - polnische Tennis-Geschichte hat sie so oder so schon geschrieben.