"Die Menschen in Russland leben in einem Klima der Angst oder leiden am Stockholm Syndrom"

In den letzten Monaten haben viele russische Oppositionelle aus Angst vor Repressionen ihre Heimat verlassen. Auch der russische Anwalt für Menschenrechte Dmitri Piskunow arbeitet mittlerweile aus dem Ausland für das Medienprojekt OVD Info. Dieses dokumentiert politische Verfolgungen in Russland und gibt Rechtsbeistand.

Piskunow sagt, "der russische Staat bleibt bei seiner Linie vom 24. Februar, alle Einwände gegen den Krieg und jeden negativen Kommentar zu unterdrücken. Der gängigste Druck sind Verwaltungsverfahren wegen Diskreditierung der russischen Streitkräfte. Wenn man erneut involviert ist, kann das ein Strafverfahren nach sich ziehen."

Tolstoi-Zitat, blau-gelbe Sneaker, acht Sternchen - Anlässe für Festnahmen

"Ein Verwaltungsverfahren kann von der Polizei initiiert werden, wenn eine Person direkt an einer Antikriegs-Handlung teilgenommen hat. Allerdings gibt es auch Fälle von Leuten, die nur in der Nähe standen oder ein Blatt Papier in der Hand hielten, auf dem acht Sternchen zu sehen waren - die Anzahl der russischen Buchstaben für "Kein Krieg"", sagt er. "Oder die Menschen trugen eine Tasche mit einem Zitat von Leo Tolstoi oder sie hatten blau-gelbe Sneaker an - die Farben der ukrainischen Fahne."

Anwälten wird Druck gemacht, so bekommen sie keinen Einlass in Gerichtsgebäuden oder Polizeiwachen.

Seit dem 24. Februar wurden Informationen von OVD Info zufolge mehr als 15.000 Menschen in Russland festgenommen. Es wurden Dutzende Strafverfahren mithilfe des neuen Gesetzes gegen angebliche "Fake News" über die russische Armee eröffnet. Einige Beschuldigte warten auf ihre Verurteilung hinter Gittern.

Anwälte unter Druck: Kein Einlass in Gerichtsgebäude

Piskunow sagt, "unter ihnen sind Journalisten, Blogger und berühmte Persönlichkeiten, aber es gibt genau so Strafverfahren gegen unbekannte Leute. Gegen jemanden, der etwas in den sozialen Netzwerken veröffentlichte oder gegen Lehrer, die die russischen Streitkräfte in der Schule kritisierten und denunziert wurden. Anwälten wird Druck gemacht, so bekommen sie keinen Einlass in Gerichtsgebäuden oder Polizeiwachen.”

Die gesamte Bevölkerung lebt in Angst oder leidet am Stockholm Syndrom.

Im Dezember wurde OVD Info offiziell als "ausländischer Agent" eingestuft, im März wurden die Geschäftsräume durchsucht. Den Druck von oben konnte Piskunow deutlich spüren.

“Der Unterdrückungsmechanismus des Staates zeigt Wirkung. Ein Mechanismus, der ein Klima der Angst schürt. Im Vergleich zu den ersten Kriegstagen oder im Vergleich zu den Demonstrationen für den Oppositionellen Alexej Nawalny vor mehreren Monaten gehen die Menschen viel weniger auf die Straße. Die gesamte Bevölkerung lebt in Angst oder leidet am Stockholm Syndrom und versucht so gut es geht, sich von der Außenwelt abzuschotten und alles zu ignorieren, was derzeit geschieht", sagt der Anwalt für Menschenrechte.