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"Mal ehrlich, was gibt es an uns nicht zu mögen?"

Wir brauchen Liebe, viel mehr Liebe, findet Fran Healy, der selbst so viel Wärme im Herzen trägt, dass er zuletzt sogar einen feindseligen Journalisten mit auf Tour nahm. Im Interview erklärt der Travis-Frontmann außerdem, dass in jedem Menschen ein Sänger steckt und warum man das neue Album seiner Band vielleicht besser nicht kaufen sollte.

Vor etwa 25 Jahren betraten die vier Mitglieder von Travis erstmals zusammen einen Proberaum in Glasgow. Seitdem hat die schottische Band dank Hits wie "Why Does It Always Rain On Me" und "Sing" Millionen Tonträger verkauft. Zu ihren Fans gehört auch Coldplay-Sänger Chris Martin, der einst sagte, dass es seine Band ohne Travis wahrscheinlich nicht geben würde. Mit "10 Songs" veröffentlichen Sänger Fran Healy und seine Mitstreiter nun ihr neuntes Album. Im Interview verrät der 47-Jährige, warum er es in den letzten Jahren eher ruhiger angehen ließ, weshalb unsere Welt dringend mehr Liebe braucht und warum Travis einen Journalisten, der sie nicht mag, für eine Dokumentation engagierte.

teleschau: Travis gibt es in der jetzigen Besetzung seit einem Vierteljahrhundert. Was ist Ihr Erfolgsgeheimnis?

Fran Healy: Wir kannten uns alle schon, bevor wir zusammen Musik machten: Ich kannte Neil (Primrose, Anm. d. Red.) aus der Bar, in der er arbeitete, Neil kannte Dougie (Payne, d. Red.), weil sie zusammen in einem Schuhladen arbeiteten, Dougie kannte Andy (Dunlop, d. Red.) durch die Kunstschule, und auch ich kannte Dougie von dort. Dass wir in dieser Konstellation immer zusammenblieben, liegt daran, dass es nie etwas gab, das unüberwindbar war. Wir hatten nie irgendwelche Schwierigkeiten, die wir nicht meistern konnten, und wir waren immer vernünftig. Wir sind schließlich schottisch! Schotten sind sehr bodenständig. Sie haben zwar ein Ego, aber es ist das Äquivalent zur Diet Coke - kalorienarm und sehr leicht.

teleschau: Das würde erklären, warum Sie für die Dokumentation "Almost Fashionable" vor zwei Jahren ausgerechnet einen Journalisten, der Travis nicht mag, einluden, Sie auf Ihrer Tournee durch Mexiko zu begleiten. Was brachte Sie damals auf diese Idee?

Healy: Ich wollte wissen, warum er uns nicht mag! Denn mal ehrlich: Was gibt es an uns nicht zu mögen? Wir machen keine schreckliche Musik, wir waren eine Zeit lang eine der erfolgreichsten Bands in der Welt. Nette Typen sind wir auch, wir sind keine Idioten. Wir sind zur Kunstschule gegangen, wir sind gebildet und haben Verstand. Also was ist es, das Wyndham Wallace - so heißt der Journalist - und seine Kollegen gegen uns haben? Was hat sein Bild von uns so verzerrt?

teleschau: Was ist es Ihrer Meinung nach?

Healy: Es ist der Journalismus, der es so verzerrt. Denn wir sind nicht verrückt genug oder zu nett. Journalismus ist voll von Leuten, die die Fähigkeit verloren haben, Fan zu sein. Aber als Wyndham mit uns auf Tour kam, meinte er "Oh, ihr seid ja ganz anders, als ich dachte!".

teleschau: Das heißt, Sie konnten ihn für sich gewinnen?

Healy: Ja, innerhalb von zehn Minuten! Weil er merkte, dass wir keine Idioten sind. Von daher war es eine sehr gute Idee, ihn mit auf Tour zu nehmen.

"Ich hasse meine Stimme"

teleschau: Die Dokumentation beschäftigt sich auch mit der Frage, warum wir Musik lieben. Warum lieben Sie Musik?

Healy: Lieder zu singen, ist eine sehr alte Tradition - und wenn ich alt sage, meine ich tausende Jahre alt. Ich glaube, wir haben gesungen, bevor wir gesprochen haben. Und wenn man noch weiter zurückblickt: Alle Lebewesen machen Geräusche. Wenn sie glücklich sind, wenn sie traurig sind, wenn sie sich paaren wollen. Und all diese Geräusche sind gefüllt mit Emotionen. Vor 100 oder 200 Jahren kam dann jemand auf die Idee, dass man Musik doch aufnehmen und verkaufen könnte und das Musikbusiness war geboren. Erst kauften die Leute Notenblätter, dann Schallplatten, Kassetten und CDs. Heute existiert Musik im Äther. Aber eigentlich sollten wir Musik nicht kaufen. Das ist vielleicht keine besonders schlaue Bemerkung, um unser Album zu promoten, aber Musik ist nicht dafür da, dass wir sie kaufen, sondern dafür, dass wir sie singen. Davon handelt übrigens auch unser Song "Sing". Ein wichtiger Song, dessen Botschaft ganz simpel ist: Wir sollten mehr singen. Viele Leute sagen, sie können nicht singen, aber das stimmt nicht. Vielleicht mag man nicht, wie man klingt. Ich mag auch nicht, wie ich klinge. Ich hasse meine Stimme.

teleschau: Das meinen Sie nicht ernst.

Healy: Doch! Aber wenn ich singe, geht es nicht darum, wie ich klinge, sondern wie es sich anfühlt. Die Vibration in meinem Körper - das macht etwas, es ist therapeutisch. Einige Songs singen sich besser für den einen, die anderen besser für den anderen. Man muss einfach versuchen, seinen Song zu finden und dann singen.

teleschau: "10 Songs" ist das neunte Album in der Geschichte von Travis. Wird es mit der Zeit schwerer, etwas zu schaffen, das einem selbst gefällt?

Healy: Es wird nicht schwerer, weil es immer schwer ist. Deswegen hört man dieser Tage auch kaum noch Songs. Was mich interessiert, sind Melodien. Das ist ein bisschen wie beim Bergbau. Man muss viel buddeln und meißeln, bis man irgendwann einen kleinen Diamanten oder ein Goldstück findet. Ich würde sagen, zu 95 Prozent besteht der Prozess aus Buddeln und Meißeln. Deswegen dauerte es auch vier Jahre, dieses Album fertigzustellen.

teleschau: Was meinen Sie damit, dass es heute keine Songs mehr gibt?

Healy: Heute schreibt kaum noch jemand neue Melodien, sondern es wird einfach ein Produzent engagiert, der auf seinem Laptop etwas bastelt, das innerhalb von zehn Minuten so gut wie "OK Computer" klingt. Dann sucht man sich einen Sänger, der ein Telefonbuch vorliest, und schon glauben die Leute, das sei der beste neue Song. Aber zehn Monate später erinnert sich niemand mehr daran, der Song existiert nicht mehr. Er ist bloß Schall und Rauch. Deswegen heißt unser Album auch "10 Songs". Das hier sind zehn Songs, die eine Bedeutung haben.

"Amerika ist erledigt"

teleschau: Es heißt, Sie hätten bei diesem Album einen neuen Antrieb verspürt. Nach Jahren des Cruisens seien Sie nun wieder mit Vollspeed unterwegs. Wie kommt's?

Healy: Vor 14 Jahren bin ich Vater geworden. Mit der Band lief es damals super, aber dann kam mein Sohn Clay auf die Welt. Ich selbst wuchs ohne Vater auf und wollte für Clay der Vater sein, den ich nie hatte. Man kann sich das vorstellen wie einen Laser, der aus der Mitte meiner Stirn kam. Auf einmal zeigte er nicht mehr auf die Band, sondern auf Clay. Vor eineinhalb Jahren passierte dann etwas Interessantes: Eines Abends, ich spielte gerade Klavier, kam Clay zu mir und meinte: "Dad, ich glaube, du solltest dich wieder auf die Band konzentrieren." Das war wie bei Pinocchio, der sich zu Meister Geppetto auf den Tisch setzt, sagt "Du musst mich nicht mehr anmalen, ich bin fertig" und dann vom Tisch hüpft. Mein Laser ist jetzt also wieder auf die Band gerichtet. Das hier ist meine Berufung.

teleschau: Empfinden Sie das so?

Healy: Ja. Nicht die Band, sondern Songwriting und Storytelling. Es fühlte sich immer an, als wäre ich hier, um genau das zu tun. Vor etwa einem Jahr hatte ich eine lange Unterhaltung mit einem Taxifahrer in Glasgow. Als ich ausstieg, ließ er das Autofenster runter und meinte: "Wir sind eine lange Zeit unter der Erde." Das hat mich umgehauen. Aber wenn man mal drüber nachdenkt: Bevor wir geboren werden, existieren wir nicht. Dann sind wir für 80 oder 90 Jahre auf dem Planeten, wenn es gut läuft, und danach sind wir Staub, bis das Universum zu Ende geht. Millionen von Jahren sind wir nicht hier. Wir existieren nur für eine ganz kurze Zeit, und deswegen ist es wichtig, seine Zeit hier zu nutzen und seinem Herzen zu folgen. Die Dinge zu tun, die man tun muss. Und ich glaube, ich bin hier, um zu singen.

teleschau: Den Moment zu leben - davon handelt auch der Song "A Ghost", oder?

Healy: In dem Song geht es darum, in den Spiegel zu blicken und sich zu fragen: Bin ich glücklich? Mache ich das, was ich tun sollte? Denn wenn nicht, könnte ich genauso gut tot sein. Kennen Sie den Film "Einmal wirklich leben"? Er handelt von einem Mann, der erfährt, dass er sterben muss. In dem Moment erkennt er, dass er im Grunde schon tot war. Ich finde, das passt sehr gut dazu, was in der Welt gerade los ist.

teleschau: Wie meinen Sie das?

Healy: Wenn ich mich umsehe, sehe ich nicht viele glückliche Gesichter, ich sehe nicht viel Liebe. Stattdessen sehe ich eine Menge Leute, die verdammt hart arbeiten, damit sie genug Geld verdienen, um Essen auf dem Tisch und ein Dach über dem Kopf zu haben - aber sie haben kaum Zeit für ihre Kinder. Das wurde im Laufe der Jahre immer schlimmer. Ich hatte das Glück, dass es bei mir anders war. Mit dem Geld, das mit unserem Erfolg kam, kaufte ich mir Zeit mit meinem Sohn. Aber warum muss man erfolgreich sein, um sich Zeit mit seinen Kindern kaufen zu können? Hier in Deutschland ist das übrigens besser. Ich lebte einige Monate in Berlin, das war eine schöne Zeit. Die Leute sind hier glücklicher, sie haben mehr Lebensqualität. Im Moment lebe ich in Amerika und das Land ist erledigt. Hier herrschen Gier und ein Mangel an Liebe.

teleschau: Die Liebe spielt auf "10 Songs" eine große Rolle. Es ist ein sehr romantisches Album.

Healy: Liebe gehört einfach zu den wichtigsten Dingen. Wenn wir keine Liebe kriegen, keine Wertschätzung von unseren Eltern, dann bekommen wir Depressionen. Unsere ganze Welt dreht sich um die Liebe. Liebe zu finden, Liebe zu geben, Liebe zu empfangen, zuzulassen, geliebt zu werden - all das gehört zum Leben und das wollte ich mit diesen Songs erforschen. Denn was bleibt uns ohne die Liebe? Wir können uns vormachen, dass wir all diese unglaublichen Dinge haben, iPhones, Autos und Flugzeuge, aber das ist eine Illusion. Alles, was wir haben, sind wir, und was wir einander geben können, ist Liebe. Die Welt braucht dringend mehr davon.