"Es lohnt sich, sich zu wehren"

Freude am kommunalen Amt? - Offenbar ist immer öfter das Gegenteil der Fall: Mit ihrer NDR-Redaktion hat sich die "Panorama"-Moderatorin Anja Reschke eingehend mit der Situation der Bürgermeister beschäftigt und Erschreckendes zutage gefördert.

Natürlich, Politik fängt unten an. Die Demokratie lebt vom Diskurs an der Basis, und jeder Kommunalpolitiker weiß, dass er manchmal auch dorthin muss, wo es wehtut. Trotzdem hatte es immer seinen Reiz, sich für die Heimat auf kommunalpolitischer Ebene zu engagieren und das Leben vor Ort, etwa im Ehrenamt, mitzugestalten. In den vergangenen Jahren hat sich jedoch Entscheidendes verändert: Was viele Mandatsträger in der Ausübung ihres Amtes erleben, geht weit über jedes erträgliche Maß hinaus. Beleidigungen sind an der Tagesordnung, zunehmend wird sogar die Angst um Leib und Leben zum Faktor. "Wir vergasen dich wie die Antifa", "Linke Schweine wie dich werden wir vorher entsorgen" ... - Anja Reschkes NDR-Redaktion, die sich für einen Themenschwerpunkt eingehend mit der Situation der Lokalpolitiker beschäftigt hat, kann Derartiges reihenweise rezitieren. "Wir haben Politikerinnen und Politiker gesprochen, die wegen der Anfeindungen, denen sie ausgesetzt waren, einen Burn-Out erlitten haben und ihren Beruf aufgeben mussten", schüttelt die "Panorama"-Moderatorin und Leiterin des NDR-Programmbereichs Kultur und Dokumentation den Kopf. Wie konnte es so weit kommen, und was ist jetzt zu tun? - Das NDR-Fernsehen sucht in der Reportage "45 Min - Bürgermeister unter Druck" (Montag, 16. März, 22.00 Uhr) und im Zweiteiler "Unsere Bürgermeister" (freitags, 20. und 27. März, 21.15 Uhr) nach Antworten. Anja Reschke (47) spricht vorab von "schockierenden" Ergebnissen.

teleschau: Frau Reschke, "Bürgermeister unter Druck" lautet der vielsagende Titel der neuen Reportage im NDR-Fernsehen. Welches Bild zeichnet Ihre Redaktion vom Alltag der kommunalen Mandatsträger?

Anja Reschke: Viele Bürgermeisterinnen und Bürgermeister, mit denen wir gesprochen haben, haben uns von Beleidigungen bis hin zu Morddrohungen berichtet. Sie werden auf öffentlichen Veranstaltungen angefeindet, manche berichten, dass Eier auf ihre Privathäuser geworfen werden und nachts gegen ihre Fenster geklopft wird. Es war wirklich erschütternd, in wie vielen Gemeinden, in denen wir nachgefragt haben, das Problem bekannt ist. Die Zahlen sprechen für sich: Nach einer Umfrage des Magazins "Kommunal" im vergangenen Sommer haben vier von zehn Kommunen in Deutschland mit verbalen Drohungen zu kämpfen. In jeder zwölften Gemeinde sind Mitarbeiter oder Amtsträger Opfer körperlicher Gewalt im Amt geworden. Ich finde diese Ergebnisse schockierend.

teleschau: Von immer mehr Menschen wird das, was in unserer Gesellschaft als Konsens für den Umgang miteinander galt, aufgekündigt. Woher rührt das?

Reschke: Sicher spielt die Enthemmung durch Social Media, das Bestätigtwerden von Laut-Sein, eine Rolle. Aber das Problem geht meiner Meinung nach tiefer. Es herrscht bei vielen ein merkwürdiges Verständnis von Demokratie.

teleschau: Inwiefern?

Reschke: Eher, als wäre sie so eine Art Dienstleistung, mit der Politiker den Bürger wie einen Kunden zu bedienen haben. Und wenn man mit dem Service nicht zufrieden ist, wehrt man sich eben. Das ist ein gefährliches Verständnis von Zusammenleben und Staat. Die Demokratie ist kein Kaufhaus, sie funktioniert nur, wenn sich alle dafür verantwortlich fühlen. Das gleiche Phänomen kenne ich als Journalistin des öffentlich-rechtlichen Rundfunks. Aus vielen Kommentaren oder Mails kann man eine völlig falsche Anspruchshaltung herauslesen. Nach dem Motto: Ich bezahle Sie von meinen Rundfunkbeiträgen, berichten Sie also gefälligst so, wie ich es will. Das ist aber nicht die Aufgabe von Journalismus. Und natürlich wird all das durch die Sozialen Medien verstärkt. Beschimpfungen in Social Media machen etwa die Hälfte aller Beleidigungen aus.

teleschau: Und wie sieht es außerhalb von Facebook und Co. aus?

Reschke: Kommunale Vertreter haben uns erzählt, dass sie auch im direkten Gespräch und in Veranstaltungen immer öfter angefeindet werden. Offenbar sinkt die Hemmschwelle, und Worten folgen eben Taten. Die Zahl der Gewaltattacken hat sich innerhalb von zwei Jahren um 25 Prozent erhöht.

Empörung über "Künast-Urteil"

teleschau: Verstehen Sie Politiker, die sich unter dem zunehmenden Druck von Ihren Ämtern zurückziehen, und junge Menschen, die lieber gleich einen weiten Bogen um das politische Engagement machen?

Reschke: Persönlich kann ich jede und jeden verstehen, der oder die sagt, das tue ich mir nicht an. Wir haben Politikerinnen und Politiker gesprochen, die wegen der Anfeindungen, denen sie ausgesetzt waren, einen Burn-Out erlitten haben und ihren Beruf aufgeben mussten. Gleichzeitig frage ich mich, wie wir unser Zusammenleben organisieren wollen, wenn es niemanden mehr gibt, der sich für die Gesellschaft engagiert. Demokratie lebt von der Beteiligung jedes Einzelnen. Wir müssen also alles dafür tun, dass insbesondere die Menschen, die sich engagieren, Solidarität erfahren. Wir sollten denjenigen, die pöbeln oder gar drohen, nicht das Feld überlassen. Es lohnt sich übrigens, sich zu wehren: Die beiden Autoren des Filmes "Bürgermeister unter Druck", Nils Casjens und Ute Jurkovics, haben auch den Lüneburger Oberbürgermeister Ulrich Mädge getroffen. Der hat die Schreiber zweier Hasskommentare erfolgreich angezeigt. Beide wurden verurteilt und mussten jeweils eine vierstellige Geldbuße zahlen.

teleschau: Denken Sie, der Mord an den CDU-Politiker Walter Lübcke hat flächendeckend Spuren bei den Mandatsträgern in unserem Land hinterlassen?

Reschke: Ja, die Stimmung ist eine andere geworden. Viele Politikerinnen und Politiker haben uns gesagt, dass sie Kritik - auch Beleidigungen - in einem gewissen Umfang natürlich gewöhnt sind, doch der Mord an Walter Lübcke hat das Bewusstsein dafür geschärft, dass Worten auch Taten folgen. Folgen hinterlassen hat übrigens auch das sogenannte "Künast-Urteil". Das Berliner Landgericht hatte im September 2019 geurteilt, dass Ausdrücke wie "ein Stück Scheiße" oder "Geisteskranke" zulässige Meinungsäußerungen sein können. Das empört viele. Wir haben Renate Künast in unserem Film dazu noch mal befragt.

"Rechtsfreie Räume darf es nicht geben"

teleschau: Die Demokratie lebt von der Freiwilligkeit und einer intakten kommunalpolitischen Basis. Müssen wir uns ernsthaft Sorgen machen, dass uns über kurz oder lang die fähigen Lokalpolitiker ausgehen?

Reschke: Vor allem fehlen Lokalpolitikerinnen. Nur jede zehnte Kommune wird von einer Frau geführt. Es ist tatsächlich so, dass manche Kommunen weder Frau noch Mann für das Amt finden. Es gibt dann niemanden mehr, der die Interessen der Gemeinde im Kreis oder im Land vertritt. Die zunehmenden Anfeindungen sind ein Grund dafür, aber zum Beispiel spielen auch Bürokratie, fehlende Gestaltungsmöglichkeiten oder private Gründe eine Rolle. Eigentlich macht es doch Spaß, sich einzubringen und Dinge zu gestalten. Ich hoffe sehr, dass es weiterhin Menschen gibt, die sich in ihrer Heimatgemeinde engagieren.

teleschau: Was sollte in Ihren Augen getan werden, um die Mandatsträger zu schützen? Reicht die Strafverfolgung aus?

Reschke: Das ist schwierig zu beantworten. Es gibt tatsächlich einige Bürgermeisterinnen und Bürgermeister, insbesondere im Osten, die sich von der örtlichen Polizei im Stich gelassen fühlen. Die meisten Beleidigungen, insbesondere Drohungen, sind schon heute strafbar, können allerdings oft nicht geahndet werden, weil die Täter nicht ermittelt werden können. In unserem Film "45 Min - Bürgermeister unter Druck" zeigen wir die Staatsanwaltschaft in Göttingen, die eine neue Taskforce aufbaut, um genau diese Fälle besser verfolgen zu können. Ich hoffe, dass sie damit erfolgreich sind.

teleschau: Was kann und sollte die "große" Politik tun?

Reschke: Sie muss deutlich machen, wie wichtig kommunale Politikerinnen und Politiker für unser Land sind. Sie muss Menschen, die sich engagieren, schützen und in ihrer Arbeit unterstützen. Das gilt auch für die, die sich außerhalb der klassischen Parteipolitik - zum Beispiel in der Flüchtlingshilfe, bei Fridays for Future oder in der Brauchtumspflege - engagieren. So genannte rechtsfreie Räume darf es nicht geben.

teleschau: Inwiefern ist auch die sogenannte Zivilgesellschaft gefordert?

Reschke: Eine Gemeinde kann etwas dafür tun, ihren Bürgermeister oder ihre Bürgermeisterin, ihre Landrätin oder ihren Landrat zu unterstützen. Sich einmischen in Diskussionen, sachliche Argumente vorbringen, respektvoll diskutieren. Damit entsteht ein Klima, das Hass und Anfeindungen zumindest nicht begünstigt. Es hilft, Solidarität zu zeigen, wenn jemand bedroht oder angefeindet wird. Voraussetzung ist natürlich, dass man selbst davon überhaupt weiß. Viele Politikerinnen und Politiker machen selbst massive Drohungen nicht öffentlich, um Nachahmer nicht zu ermutigen. Vielleicht müssen wir alle schneller darüber reden, wenn so etwas passiert, um dem Hass gemeinsam entgegentreten zu können.

"Social Media ist übrigens auch ganz toll"

teleschau: Journalisten, die öffentlich Haltung zeigen, machen heute ähnliche Erfahrungen wie die Bürgermeister im NDR-Beitrag. Sie selbst standen nicht nur einmal hart im Wind von Hass und Beleidigung. Wie hält man so etwas aus?

Reschke: Ich kann nur dringend davor warnen, dieser Erzählung auf den Leim zu gehen! Es geht nicht ums Haltung zeigen. Wenn man es darauf reduziert, schwingt da nämlich mit, dass die Journalisten, die angefeindet werden, auch ein bisschen selbst schuld sind. Nach dem Motto: "Na ja, hätte er/sie sich mal ein bisschen zurückgehalten." Das ist wirklich Unfug. Jeder Journalist, der etwas berichtet, das bestimmten Gruppen nicht passt, muss heute damit rechnen, gezielt in den Fokus genommen und angegriffen zu werden. Das ist ganz klare Strategie derjenigen, die die Verhältnisse in diesem Land ändern wollen. Es geht um den stetigen Versuch, einzuschüchtern und zu zermürben. Und diese Tatsache sollten wir endlich einmal wahrnehmen. Und das Gleiche erleben eben auch Bürgermeister, Ehrenamtliche, ja sogar Wissenschaftler. Etwa die, die im Bereich Klima oder Gender forschen.

teleschau: Müssten nicht noch viel mehr Prominente klare Kante zeigen: gerade auch solche Stars aus Sport und Unterhaltung, die eine besonders große Reichweite haben?

Reschke: Wie gesagt, ich halte es für keinen besonderen Ausweis an Mut oder Haltung, sich mit den Grundwerten unserer Verfassung gemein zu machen. Das muss für jeden Bürger normal sein und nichts Außergewöhnliches. Und das ist es übrigens auch für die meisten. Es gibt wirklich sehr viele Menschen, die sich für Demokratie und Menschenrechte einsetzen. Die werden nur im lauten Getöse gerne übersehen. Und wenn man die als Prominenter bestärken kann, dann finde ich das eine ehrenvolle Aufgabe.

"Nicht immer nur auf die Lauten, Wütenden schauen!"

teleschau: Sie haben Ende der 90er-Jahre volontiert, lange vor Social Media. Hand aufs Herz: Denken Sie in schwachen Momenten manchmal: "Wenn mir das einer gesagt hätte, dann wäre ich lieber nicht in den Journalismus gegangen?"

Reschke: Nein, das habe ich tatsächlich noch nie gedacht. Ich fand und finde das immer noch einen tollen Beruf. Weil er deinen Blick öffnet, weil er einen zwingt, über das, was man schon kennt und weiß, hinauszudenken. Wo sonst hat man die Möglichkeit, in so viele Lebenswelten zu schauen? Den Hartz-IV-Empfänger genauso kennenzulernen wie den Vorstandsvorsitzenden, die Studentin wie den Rentner, den wütenden Pegida-Anhänger wie den, der gerade aus Syrien gekommen ist? Und Social Media ist übrigens auch ganz toll: Denn man hat endlich einen Rückkanal zu seinem Publikum. Das ist viel wert.

teleschau: Also, wie schaffen wir es, dass sich die Mehrheitsgesellschaft dem Hass nicht sukzessive beugt? Dass alle, die etwas öffentlich zu sagen haben, Politiker, Journalisten und sicherlich auch Prominente, motiviert und beherzt bleiben in ihrer Haltung und in der Ausübung ihrer Berufe?

Reschke: So attraktiv das auch ist, gerade auch für Medien: Nicht immer nur auf die Lauten, Wütenden schauen, ihnen nicht zu viel Raum geben! Es gibt nämlich wirklich sehr viele, engagierte, tolle Menschen in Deutschland, die in der Beachtung gerade ein bisschen untergehen. Und ein bisschen Demut würde uns auch nicht schaden. Es geht uns nämlich ziemlich gut.