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Kommentar: Die Chance der SPD

Bei Martin Schulz stoßen bislang jegliche GroKo-Appelle auf taube Ohren (Bild: Reuters)
Bei Martin Schulz stoßen bislang jegliche GroKo-Appelle auf taube Ohren (Bild: Reuters)

Warum wir nach dem Jamaika-Debakel keine Neuwahlen brauchen.

Ein Gastkommentar von Hans F. Bellstedt

Zu den Deutungen, die rund um das Scheitern von Jamaika verbreitet werden, gehört diejenige, dass ein Ergebnis doch „zum Greifen nah“ (Ursula von der Leyen) gewesen sei. Alles hätte so leicht werden können: Mit Zustandekommen einer Jamaika-Koalition wären Kanzlerinnenwahl, Regierungsbildung und Wiederaufnahme der Gesetzgebungstätigkeit nur noch eine Frage von Wochen gewesen. Hätte, wäre, könnte: Seit dem Abbruch der Sondierungen durch Christian Lindner und die Freien Demokraten wird daraus erst einmal nichts, es sei denn… – und hier beginnt es, bizarr zu werden. Rein rechnerisch ist weiterhin mindestens ein Regierungsbündnis möglich – nämlich die Große Koalition. Die SPD bräuchte nur den Finger zu heben, damit die Union sie zu Koalitionsverhandlungen einlüde. Der Bundespräsident hat die SPD hörbar dazu aufgefordert, diese Option nicht kategorisch auszuschließen.

SPD richtet sich in der Verliererrolle ein

Jedoch mauert die SPD bis jetzt auf ganzer Linie. „Die Wähler haben der Großen Koalition kein neues Mandat erteilt“, heißt es unisono aus dem Willy-Brandt-Haus und den SPD-geführten Staatskanzleien in den Ländern. Die Bürgerinnen und Bürger sollen „die Lage neu bewerten können“, erklärte Martin Schulz am Tag nach dem Jamaika-Aus. Das klingt honorig und soll Respekt vor dem Souverän zum Ausdruck bringen. Tatsächlich aber steckt die SPD in der selbstverschuldeten Sackgasse: So unmissverständlich hat der Wahlverlierer Schulz Minuten nach den ersten Hochrechnungen vom 24. September verkündet, dass die SPD in die Opposition gehen werde, dass eine Abkehr von dieser Position die Gefahr des Wortbruchs birgt. Zudem will man der AfD auch weiterhin nicht den Platz der stärksten Oppositionspartei im Deutschen Bundestag überlassen. So richtet die SPD sich in der Rolle des Wahlverlierers ein und gibt sich vier Jahre Zeit für die Erneuerung.

Kommentar: Merkel ist das Reizwort des Jahres

Aber kann dies wirklich das letzte Wort gewesen sein? Ist die deutsche Sozialdemokratie, die zu Recht stolz auf ihre lange Geschichte ist, plötzlich taub auf dem Ohr der staatspolitischen Verantwortung? Sind Schulz, Nahles und Co. frei von jeglichem gestalterischen Ehrgeiz? Wo bleibt der gesunde Macht- und Umsetzungswille einer Partei, deren Wahlprogramm, etwa bei Rente, Arbeitsmarkt oder Gesundheit, deutlich schärfere Konturen hat als das der Union? Sicher, der massive Stimmenverlust hat der SPD schwer zugesetzt. Aber nach dem Jamaika-Debakel geht es nicht um das Seelenheil einer Partei. Sondern um unser Land.

Kommentar: Warum die FDP richtig gehandelt hat

Deutschland ist vergleichsweise stabil, aber die Welt um uns herum ist es nicht: Ob Brexit, Katalonien oder Macrons hochfliegende Europa-Pläne – schon in der EU ist eine starke deutsche Regierung dringend gefordert. Für die weltweiten Turbulenzen – Syrien, Nordkorea, Trump – gilt dies umso mehr. Eine geschäftsführende Bundeskanzlerin ist am Verhandlungstisch der Mächte nicht sprechfähig, muss stets auf die unklaren Verhältnisse in Berlin verweisen – ein gefährliches Vakuum, welches Assad, Erdogan oder Putin eiskalt ausnutzen könnten. Nicht zuletzt hat auch die Wirtschaft – haben die Unternehmen im Land – Anspruch darauf, dass nicht nur verwaltet, sondern regiert wird, dass Innovationen und dringend nötige Investitionen angeschoben werden.

GroKo möglich – ohne Merkel?

Die nächsten Tage werden zeigen, ob die SPD ihre ablehnende Linie durchhalten kann. Andrea Nahles will „darüber reden, wie wir einen Prozess gestalten, der unser Land in eine stabile, neue Regierung führt.” Das klingt nicht zwingend nach Neuwahlen. Vielleicht geht es nur noch um die Bedingungen, zu denen die Partei sich aus der Reserve locken lässt? Große Teile des Wahlprogramms müssten Eingang in den Koalitionsvertrag finden. Die Zahl der SPD-geführten Bundesministerien bliebe unverändert, trotz Stimmen- und Mandatsverlusts. Die weitestgehende (aber nicht unwahrscheinliche) Bedingung bestünde darin, dass Angela Merkel das Kanzleramt räumen muss, damit die SPD eine unionsgeführte Bundesregierung mitträgt. Hier gilt für die Union: Umparken im Kopf! Mit einem erfrischenden Erneuerer wie beispielsweise Armin Laschet im Kanzleramt und dem Hamburger Olaf Scholz als Vizekanzler und Finanzminister könnte aus dem vormaligen Trott der GroKo ein stabiles Bündnis der Erneuerung werden. Alles Hirngespinste?

Kommentar: Warum die FDP sich blamiert hat

Spielen wir durch, was ansonsten droht: drei für die Kanzlerin demütigende Wahlgänge im Deutschen Bundestag, aus denen sie nicht als Siegerin hervorgehen kann; Auflösung des Parlaments, obwohl gerade erst gewählt; die mühselige Prozedur der Kandidatenaufstellung in 299 Wahlkreisen; ein erneuter, kräftezehrender und vor allem teurer Wahlkampf; neuerliche Sondierungen oder Koalitionsverhandlungen mit unsicherem Ausgang – denn warum sollte das Wahlergebnis grundlegend anders ausfallen als am 24. September? Eine der größten Volkswirtschaften der Welt, die Lokomotive Europas – auf Monate gelähmt, zum Nichtstun verdammt. So muss es nicht sein! Die SPD sollte die aktuelle Lage nicht als Last empfinden, sondern als Chance. Auch mit 20 Prozent darf eine Partei mitgestalten. Frau Nahles und Herr Scholz – übernehmen Sie!

Hans F. Bellstedt ist Kommunikationsberater und Lehrbeauftragter für Politische Kommunikation an der TU Berlin.