Kilicdaroglu tritt als Kandidat der türkischen Opposition gegen Erdogan an

Nach monatelangen heftigen Debatten hat sich ein Bündnis aus sechs türkischen Oppositionsparteien doch noch auf einen gemeinsamen Kandidaten für die Präsidentschaftswahl im Mai geeinigt. Die Allianz schickt den Chef der größten Oppositionspartei CHP, Kemal Kilicdaroglu, ins Rennen gegen Amtsinhaber Recep Tayyip Erdogan, wie der Vorsitzende der Saadet-Partei, Temel Karamollaoglu, am Montagabend in Ankara im Beisein der anderen Parteichefs verkündete.

"Wir wären eliminiert worden, wenn wir uns gespalten hätten", sagte Kilicdaroglu nach der Bekanntgabe vor jubelnden Anhängern in Ankara. Er versprach, das Land im Falle eines Wahlsieges gegen Erdogan "auf der Grundlage von Konsultationen und Kompromissen zu führen". "Recht und Gerechtigkeit werden sich durchsetzen", fügte er hinzu.

Das Bündnis hatte sich lange nicht auf einen gemeinsamen Kandidaten einigen können; in den vergangenen Tagen hatte sich sogar ein Zusammenbruch der Allianz angedeutet. Fünf Parteien wollten den 74-jährigen Kilicdaroglu ins Rennen gegen Erdogan schicken. Die Vorsitzende der nationalistischen Iyi-Partei, Meral Aksener, favorisierte hingegen die populären Bürgermeister der Metropolen Istanbul und Ankara, Ekrem Imamoglu und Mansur Yavas, die ebenfalls der sozialdemokratischen CHP angehören.

Aksener befürchtete, dass der zurückhaltende Intellektuelle Kilicdaroglu, der zudem der seit lange ausgegrenzten alevitischen Gemeinschaft angehört, nicht das Charisma besitzt, um den Volkstribun und erfahrenen Wahlkämpfer Erdogan zu schlagen. Kilicdaroglu wollte jedoch Yavas wie auch Imamoglu als Bürgermeister im Amt behalten, um zu verhindern, dass Erdogans konservativ-islamische AKP wieder die Kontrolle über die beiden Städte übernimmt.

Die beiden Bürgermeister hatten am Wochenende erklärt, dass sie die Kandidatur ihres Parteichefs unterstützen. Am Montag kamen Imamoglu und Yavas dann mit Aksener zusammen, um sie davon zu überzeugen, das Bündnis aus sechs Oppositionsparteien weiter zu unterstützen. Nach einem weiteren Treffen mit Kilicdaroglu kehrte sie schließlich zur "Allianz der Nation" zurück.

Eine in letzter Minute geschlossene Übereinkunft sieht nun vor, dass Kilicdaroglu im Falle eines Wahlsiegs die anderen Parteichefs des Bündnisses zu Vize-Präsidenten ernennt. Die beiden Bürgermeister Imamoglu und Yavas könnten demnach ebenfalls "zu gegebener Zeit" zu Vize-Präsidenten ernannt werden.

Die Präsidentschafts- und Parlamentswahlen in der Türkei sind für den 14. Mai angesetzt - gut drei Monate nach dem verheerenden Erdbeben im türkisch-syrischen Grenzgebiet mit mehr als 45.000 Toten allein in der Türkei. Erdogan strebt eine weitere Amtszeit an. Die Opposition wirft dem 68-Jährigen unter anderem vor, das Land nicht ausreichend auf Erdbeben vorbereitet zu haben.

Schon vor der Erdbebenkatastrophe hatte der Präsident, der das Land seit 20 Jahren lenkt, eine Reihe von Krisen gleichzeitig zu bewältigen. Seine Wirtschaftspolitik setzte eine Inflationsspirale in Gang, die die Preise vergangenes Jahr um 85 Prozent ansteigen ließ. Zudem kämpft seine Regierung gegen Vorwürfe der Vetternwirtschaft und Korruption an.

Hinzu kommt, dass die linksgerichtete prokurdische HDP die Nominierung von Kilicdaroglu begrüßt. Sie könnte laut türkischen Medienberichten in diesem Jahr darauf verzichten, einen eigenen Kandidaten aufzustellen, um das Oppositionsbündnis zu stärken. "Wir unterstützen den Wunsch der Menschen nach einem Wandel", sagte HDP-Vizechef Mithat Sancar am Montag. "Die HDP wird ihren Teil dazu beitragen."

Der Opposition bleiben nun weniger als zehn Wochen, um ihr Programm vorzustellen und im ganzen Land Wahlkampf zu machen. Umfragen deuten auf einen engen Wahlausgang hin.

Sollte Kilicdaroglu siegen, wäre er der erste Vertreter der alevitischen Minderheit an der Spitze des türkischen Staats. Diese sind vielen konservativen Vertretern der sunnitisch-muslimischen Mehrheit im Land suspekt, da sie sich an bestimmte Riten des Islam nicht halten.

Seit 2010 steht Kilicdaroglu der von Mustafa Kemal Atatürk gegründeten laizistischen CHP vor. Davor leitete der studierte Ökonom jahrelang die mächtige Sozialversicherung des Landes. Lange stand er allerdings im Ruf, zu sanft und farblos für die türkische Politik zu sein.

An Statur gewann er vor allem im Jahr 2017, als er inmitten der Repressionen nach dem Putschversuch im Jahr davor aus Protest gegen die Inhaftierung eines CHP-Abgeordneten einen 420 Kilometer langen "Marsch für Gerechtigkeit" von Ankara nach Istanbul zurücklegte. Am Ende folgten ihm Zehntausende über die Landstraße, an der Abschlusskundgebung nahmen Hunderttausende teil. Viele vertrauen darauf, dass es Kilicdaroglu erst ist mit der versprochenen Rückkehr zu einem parlamentarischen Regierungssystem in der Türkei.

ans/bfi