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Jamaika muss die Kapitalismuskrise überwinden

Welche Steuerlast ist fair? In den USA wie in Deutschland wird im Moment wieder über dieser Frage Politik gemacht. In den USA sieht es so aus, als würde die geplante Entlastung der Reichen im Lande, der sich die Administration von Präsident Trump verschrieben hat, nicht so ohne weiteres durchgehen. In Deutschland ringen die möglichen Partner einer Jamaika-Koalition um das richtige Maß.

Im Hintergrund jeder Steuerdebatte widerstreiten im Prinzip zwei Vorstellungen, die mit den Namen Keynes und Hayek verbunden sind. Vereinfacht besagt die Theorie des ersten, dass der Staat mit Investitionen steuernd in den Markt und damit in die Gesellschaft eingreifen soll und die des zweiten, dass der Staat das besser lassen möge.

Um überhaupt in der einen oder anderen Weise wirken zu können, braucht der Staat erst einmal Einnahmen: die Steuern. Die Frage, wie hoch diese für welche Einkommensgruppen zu sein haben, um die Zuschreiben „fair" zu verdienen, ist so alt wie die Republik selbst. Griffige Wahlkampfformulierungen hatten ein Steuerkonzept im Blick, das auf einen Bierdeckel passen sollte. Daraus wurde, bislang, nichts.

Mit der Finanzmarkt-Krise ab dem Jahr 2008 werden solche Debatten nicht mehr nur über Steuersätze geführt, sondern das Finanzsystem als solches, in das das Verhältnis von Staat und seinen Bürgern eingebettet sind: warum kommen große Unternehmen darum herum, in den Ländern, in denen sie präsent sind und satt verdienen, Steuern zu zahlen, während der einfache Mann und die einfache Frau zur Kasse gebeten werden? Die Steuerdebatte ist seit jener Zeit eine Kapitalismus-Debatte.

In den USA, die den Kapitalismus, so wie wir ihn kennen, erfunden haben, kann man dieses Wirtschaftssystem im Endstadium besichtigen. Jeder ist sich im Land der unbegrenzten Möglichkeiten selbst der Nächste. Die vollständige Abwesenheit eines Solidargedankens, der vielleicht daher rühren mag, dass die USA nie so homogen waren wie europäische Gesellschaften es bis heute sind, hat eine soziale Seite einer Marktwirtschaft, zu der der Kapitalismus ja gehört, nie entstehen lassen. Die Weigerung, auch einer Vielzahl von Menschen, die es bräuchten, eine allgemeine Gesundheitsvorsorge nicht als kommunistisches Fanal zu begreifen, ist das Ungüte-Siegel einer kapitalistischen Gesellschaft, in der die unteren vierzig Prozent ökonomisch nicht vorkommen, weil sie überschuldet sind und oder immer schon zu wenig verdient haben, um für den Betrieb des Landes von Nutzen zu sein.

In Deutschland ist es noch nicht so weit, aber die Tendenzen sind erkennbar: soziale Mobilität nimmt ab, Wohnraum wird unbezahlbar. Wenn nur noch die Kinder von Akademikern auf die Uni gehen, und man reich sein muss, um in einer Innenstadt zu wohnen, dann ist die bundesdeutsche soziale Marktwirtschaft von innen ausgehöhlt und zerfressen. Wenn Kinder- und Altersarmut in einem der reichsten Länder der Erde auf die politische Tagesordnung gesetzt werden müssen, kann man davon ausgehen, dass Wohlstand ungleich verteilt ist und dringender Handlungsbedarf besteht.


Zurück zur sozialen Marktwirtschaft

Schon im Sommer 2011 haben in Teilen Europas führende konservative Denker wie der britische Thatcher-Biograph Charles Moore und der deutsche Publizist und FAZ-Herausgeber Frank Schirrmacher diese Debatte eröffnet als sie fragten, ob die Linke nicht doch recht habe. Nicht, recht gehabt hätte, schon immer, sondern in diesem aktuellen Moment unserer Geschichte. Denn, so nannte es der viel zu früh verstorbene Frank Schirrmacher, die Konservativen, die ohnehin für Metaphysisches anfällig sind, hätten die „Dividende“ niemals eingefordert, die ihnen die neoliberale Lehre von der „unsichtbaren Hand“, die den Markt lenke, versprochen habe. Die deutschen Konservativen hatten sich auf ihrem Leipziger Parteitag 2003 dieser neuen Lehre verschrieben, weil sie an ihre Versprechungen glaubten: eine größere Liberalisierung würde demnach zu mehr Möglichkeiten und mehr gerechter Verteilung führen. Heute wissen wir, dass diese Freiräume einigen großen global agierenden Finanzakteuren, den Superreichen und den großen Digitalkonzernen genutzt haben.

Die potenziellen Partner einer Jamaika-Koalition müssen nun die Weichen stellen für ein Deutschland, das zur sozialen Marktwirtschaft zurückkehrt. Es ist nicht verkehrt dabei daran zu denken, der Mitte der Gesellschaft mehr Luft zu verschaffen. Wir hören ja zu recht von der FDP, dass es bei Steuerentlastungen nicht darum gehen soll, den Menschen mehr Kohle für einen neuen Flachbildschirm oder eine Spielekonsole zu lassen, sondern darum, Wohneigentum zu erwerben, um so für das Alter vorzusorgen.

Fairness bedeutet auch anzuerkennen, dass man nicht von der Krankenschwester und dem Facharbeiter munter abziehen kann, die großen Unternehmen aber nicht zur Steuerkasse gebeten werden. Der Staat muss zur gleichen Zeit an den Stellen investieren, wo er diese verloren gegangene Gleichheit wieder herstellt: in der Bildung, der Forschung, an den Universitäten, am Anfang und am Ende des Lebens, den Kindern, den Kranken, den Alten und den Sterbenden. Dafür hat der Staat das Geld, er muss es nur richtig einsetzen.

Es geht auch nicht um schwarze Null oder Neuverschuldung. Es muss ein neuer Weg gefunden werden. Die Diskussion der vergangenen Jahre hat doch eindrücklich gezeigt, dass es nicht darum gehen kann, an Schräubchen zu drehen, wenn die Systemfrage gestellt ist.