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Ich habe einen Monat lang vegan gelebt und musste mich der unangenehmen Wahrheit über Fleischesser stellen

Kommentar
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Lasst mich raten: Ihr habt auf diesen Artikel geklickt, weil ihr schon beim Überfliegen der Überschrift entschieden habt, mich zu hassen. Ich will es euch leicht machen. Ja, für diese Zeilen werdet ihr mich hassen. Nur zu. Ich wusste das schon, bevor ich auch nur ein Wort getippt hatte, doch ich schreibe diesen Kommentar trotzdem. Warum? Weil ich im Februar einen Monat lang ausschließlich vegan gegessen und dabei vor allem eines gelernt habe: Ernährung ist eine Religion. Und Fleischesser sind ihre radikalsten Verfechter.

Normalerweise esse ich fast alles. Regelmäßig Milchprodukte, hin und wieder auch mal Fleisch. Doch im Februar verzichte ich traditionell auf Dinge, an die ich mich so sehr gewöhnt habe, dass ich im Alltag kaum mehr über sie nachdenke. Dieses Jahr entschied ich mich für den Verzicht auf tierische Produkte. Ich wollte weder abnehmen, noch auf einer Trendwelle mitschwimmen und verdammt, ich liebe Käse, es war also auch nicht die generelle Abneigung gegen Milchprodukte, die mich dazu gebracht hat. Vielmehr haben die widerlichen Kommentare von Fleischessern in sozialen Medien wie Facebook den finalen Ausschlag gegeben. Sie haben mich dem Veganismus geradezu in die Arme getrieben und mich dazu gebracht, auch jetzt noch, nach meinem Fastenmonat, überwiegend vegan zu essen.

Unsere Einstellung zu Tieren und Fleisch ist vollkommen widersinnig

Sagt nicht, ihr hättet dieses monströse Paradoxon noch nie bemerkt. Alle empören sich über Hundeschlachtfeste in China, alle finden Kälbchen und Lämmer irre niedlich, alle sprechen sich gegen Tierquälerei aus, aber wenn ein Veganer sagt, dass er es ethisch nicht vertretbar findet, die abartig ausgeartete Massentierhaltung zu unterstützen, ist er gleich ein missionierender Fanatiker. Und schlimmer noch! Das MUSS er nicht mal sagen. Es genügt schon seine bloße Existenz, um Fleischesser zu irrationalen, hasserfüllt provokanten Pseudo-Komödianten zu machen, die völlig unlustige Witzchen wie „darauf brate ich mir jetzt erst mal ein lecker Steak“ unter Artikel über beispielsweise die schlimmen Zustände in Großställen oder den viel zu hohen Fleischkonsum der Deutschen schreiben. Wie degeneriert muss man für sowas sein, frage ich mich?

Wie vollkommen widersinnig unser Verhalten ist, zeigt sich an einem recht jungen Beispiel: Erinnert ihr euch an diesen putzigen, leicht übergewichtigen kleinen Freund? Diese Ratte hat die Dimensionen ihres pelzigen Hinterteils offenbar gewaltig unterschätzt und ist deshalb im Loch eines Gullydeckels stecken geblieben. Jemand hat den Nager dort hängen sehen und eine spektakuläre Rettungsaktion losgetreten, mit Feuerwehrmännern, Medienzirkus und allem Brimborium. Hunderttausende Menschen nahmen Anteil am Schicksal der Moppel-Ratte, die dadurch so viel Aufmerksamkeit bekam, wie sie die meisten Menschen in ihrem ganzen Leben nicht bekommen.

Mittlerweile kann man sogar „Fat-Rat“-Merchandise-Artikel kaufen. Ja, richtig, ihr könnt euch Shirts und Caps zulegen, auf denen der bedauernswerte Nager aufgedruckt ist. Darüber steht dann: „Ein kleiner Fehltritt für eine Ratte, ein großer Schritt zu mehr Menschlichkeit“. Aus irgendeinem Grund kann man sich mit dem kleinen Kerlchen identifizieren, auch wenn man selbst (hoffentlich) noch nie mit seinem Hintern in einem Gullydeckel steckengeblieben ist. Man empfindet Mitgefühl, will das arme, dicke Tier retten und freut sich, dass es am Ende auch klappt. So sehr, dass man sich direkt eine Fette-Ratte-Schürze ershoppt. Das ist natürlich schön und richtig. Und gleichzeitig vollkommen irrational und bescheuert.

Die Mehrheit des Fleisches, das wir essen, stammt aus der Massentierhaltung

Wir sprechen hier über ein Tier, vor dem sich die allermeisten Menschen ekeln. Das Gedanken an Kanalisationen und furchtbare Krankheiten wie die Pest aus dem hintersten Winkel unseres Gehirns ins Bewusstsein befördert. WARUM haben so unglaublich viele Menschen Mitleid mit dieser Ratte und ignorieren gleichzeitig, dass täglich zwei Millionen Tiere in Deutschland unter grauenvollen Bedingungen gehalten, mit Medikamenten zugeschüttet und unter vollkommen unwürdigen Umständen getötet und zerhackstückt werden? Weil wir das verdammt nochmal einfach lecker finden? Nochmal: Mehr als zwei Millionen Tiere pro Tag!

Seit fast zwei Jahrzehnten pendelt der Fleischkonsum in Deutschland ziemlich stabil um die 60 Kilogramm pro Kopf und Jahr. Sechzig Kilo! Das ist etwa doppelt so viel, wie die Deutschen jährlich Süßkram essen — Eis, Kekse, Kuchen, Schokolade, alles eingeschlossen! Immer mehr Menschen sagen allerdings, dass sie weniger Fleisch essen wollen und außerdem darauf achten, dass es „aus guter Haltung“ und „von einem Metzger ihres Vertrauens“ kommt. Gleichzeitig stammen gut 98 Prozent des heute in Deutschland verzehrten Fleisches aus der Massentierhaltung. Irgendwo dazwischen scheint ein Fehler zu liegen.

Ich will mich hier wirklich nicht als Moralapostel aufspielen und Fleischessern ein schlechtes Gewissen einreden. Schließlich bin ich selbst einer. Davon abgesehen haben sie doch sowieso schon eines. Ja, das könnt ihr ruhig zugeben. Wie lecker ihr das Schnitzel auch findet, das ihr gerade verputzt — ihr wollt euch nicht wirklich nebenher ein Video aus einem Massentierhaltungsbetrieb anschauen, oder? Ich zumindest will das nicht. Weil ich genau weiß, so wie auch ihr genau wisst, dass dieser Horrorfilm-Stoff, der da abläuft, völlig inakzeptabel ist. Weil wir ganz genau wissen, dass wir zurecht ein schlechtes Gewissen haben. Weil wir so prima verdrängen können, dass Millionen Tiere leiden und wir diesen Planeten zugrunde richten, den einzigen Heimatplaneten, den wir haben — nur, weil wir Fleisch so lecker finden.

Warum sollte „Kultur“ für alle Zeiten Grausamkeit und Unmenschlichkeit rechtfertigen?

Dann reden wir uns auch noch ein, mit allen abstrusen Mitteln, dass unser Verhalten irgendwie zu rechtfertigen wäre. Das ist doch Bullshit. Schaut euch in den sozialen Medien doch mal um. Gefühlt hält sich jeder, dessen Gehirnschmalz ausreicht, um einen Wikipedia-Artikel zu ergoogeln, gleich für einen Experten auf jedem beliebigen Fachgebiet. Und dann soll es nicht zu schaffen sein, sich mit der Faktenlage vertraut zu machen?

Ich kann es wirklich nicht mehr hören. Diese unüberlegten, aggressiv-defensiven „Argumente“ von Fleischessern, die versuchen, ihren Fleischkonsum zu rechtfertigen. Aussagen wie „Fleischessen gehört zu unserer Kultur“ und „das haben wir eben schon immer so gemacht“ sind so dermaßen flach und unsinnig, dass einem angesichts so viel Plumpheit kaum eine Reaktion darauf einfallen mag. Schauen wir uns doch mal die traditionelle Grindwaljagd auf den Färöer-Inseln an. Einmal im Jahr färbt sich dort das Meer rot, weil die Einwohner Hunderte Wale in seichtes Küstenwasser treiben und sie dort brutal abschlachten. Die Einheimischen feiern das grausame Schauspiel wie ein Volksfest, denn, so das Argument, es ist Teil ihrer Kultur. Haltet ihr das denn auch für ein valides Argument?

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Auch beliebt sind Attacken auf die ökologischen Gründe für den Verzicht auf tierische Produkte. Beispiel Soja. Weil Menschen, die Soja statt Tiere essen, ja quasi indirekt sämtliche Regenwälder abholzen. Wie kann man sich das nur einreden? Die gleiche Fläche (unter anderem auch Regenwald), die in Entwicklungsländern für die Tierhaltung und den Anbau von Futtermitteln gerodet wird, kann entweder 50 Kilogramm Fleisch oder 1.000 Kilogramm Kirschen, 4.000 Kilogramm Äpfel oder 6.000 Kilogramm Karotten hervorbringen. 70 Prozent des weltweiten Soja-Anbaus dient allein als Futtermittel für die Fleischproduktion. Darüber hinaus gibt es kaum einen größeren Wasserverbraucher in Deutschland als die tierische Landwirtschaft. Für ein lächerliches Kilogramm Fleisch wird so viel Wasser benötigt, dass man von der gleichen Menge Wasser ein ganzes Jahr lang jeden Tag duschen könnte.

Unser Kassenbon ist ein Stimmzettel

Hören wir doch einfach auf damit, unsere eigene Bequemlichkeit und Feigheit hinter miesen Argumenten zu verstecken und nennen den absolut einzigen Grund, den es für unseren Fleischkonsum tatsächlich gibt: Wir finden Fleisch lecker. Deshalb verschließen wir die Augen vor der überwältigenden Faktenlage — und nur deshalb. Ich schließe mich da keinesfalls aus. Fangen wir doch also zumindest mal damit an, wieder das nötige Maß an Respekt vor dem Lebensmittel Fleisch zu haben. Denken wir doch mal häufiger darüber nach, was hinter dem in Plastik eingeschweißten Kilo Hackfleisch für 1,99 Euro stecken muss und was genau wir mit unserem Kauf unterstützen. Machen wir uns endlich klar, dass Fleisch kein Menschenrecht ist, auf das wir jederzeit Anspruch haben — und das auch noch so billig wie möglich. Betrachten wir unseren Kassenbon doch endlich mal als das, was er ist, anstatt die Verantwortung an andere abzuschieben: Ein Stimmzettel.

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Denn für die Erkenntnis, dass wir unseren Fleischkonsum mindestens drastisch reduzieren müssen, braucht es eigentlich nicht einmal Studien zur Abholzung des Regenwaldes, zur Sojaproduktion oder gesundheitlichen Risiken eines zu hohen Fleischkonsums. Es ist so einfach wie bitter: Für Tierprodukte leiden und sterben Lebewesen. Die Haltung von Tieren verursacht riesige Mengen an CO2 und verbraucht Unmengen an Wasser und Getreide. Die Ausscheidungen all der Tiere in Massentierhaltung schädigen Böden. Die Antibiotika, die den Tieren aufgezwungen werden, könnten Resistenzen fördern. Das sind bereits ausreichend viele Gründe. Gute Gründe. Absolut gewichtig genug, um deswegen seine Ernährung zu überdenken — und umzustellen.

Dieser Artikel erschien bei Business Insider bereits im November 2019. Er wurde nun erneut geprüft und aktualisiert.