"Die Grenze des Sagbaren hat sich verschoben"

Machen wir aktuell Rückschritte in Sachen Gleichberechtigung? Schauspielerin und Moderatorin Collien Ulmen-Fernandes benennt im Interview problematische Entwicklungen bezüglich Rassismus und Sexismus. Nun veröffentlicht sie ein Kinderbuch, welches das Misstrauen gegenüber Fremden thematisiert.

Die große Thematik Gleichberechtigung steht immer wieder auf der medialen Agenda, aber gibt es wirklich eine Wendung zum Besseren? Schauspielerin, Moderatorin und Autorin Collien Ulmen-Fernandes ist eher der Meinung, dass sich die Gesellschaft in dieser Hinsicht teilweise sogar zurückentwickelt hat. Ulmen-Fernandes, die am 26. September ihren 39. Geburtstag feiert, erinnert sich beispielsweise daran, dass Rassismus früher nicht so sorglos geäußert werden konnte und es in ihrer Kindheit keine expliziten Jungen- und Mächen-Abteilungen in Spielwaren-Geschäften gab. Entwicklungen, die sie in ihrem zweiten Kinderbuch "Lotti & Otto 02. Eine Geschichte über 'echte Kerle', alte Vorurteile und neue Freunde" (Edel Kids Books, ab 4. September) mit einem sympathischen Augenzwinkern aufgreift. Ihr neuer Film "Ein Sommer in Andalusien" (Sonntag, 4. Oktober, 20.15 Uhr, ZDF) setzt hingegen ein Zeichen für Gleichberechtigung in der Gender-Debatte: Vermeintlich klassische Männer-Rollen werden in dem Liebesfilm von Frauen aufs Korn genommen. Zeit für ein Gespräch über all die großen Themen dieser Zeit: Gleichstellung, Toleranz, Diskriminierung, Rassismus und eine von den sozialen Medien befeuerte Empörungskultur.

teleschau: Kürzlich sorgten Sie durch einen Instagram-Post für Schlagzeilen: Sie befürchteten, an Covid-19 erkrankt zu sein. Was war los?

Collien Ulmen-Fernandes: Seit Corona habe ich eigentlich alle beruflichen Reisen mit dem Auto zurückgelegt. Nun musste ich aber für einen Filmdreh nach Mailand. Diese Strecke mit dem Auto zu fahren, wäre einfach zu weit gewesen, also musste ich fliegen und hatte echt Angst davor! In Mailand war ich aber positiv überrascht: Alle zwei Meter stand ein Flughafenmitarbeiter, der darauf achtete, dass alle Regeln eingehalten werden. Auch im Flughafenbus waren nur so viele Leute, dass man den Abstand noch wahren konnte. In Berlin hingegen war ich wirklich schockiert: Da wurde der ganze Flieger in einen Bus gequetscht. Die zwei Busse hinter uns haben sie leer wieder weggeschickt. Skandalös!

teleschau: Wie kamen Sie auf den Verdacht einer Corona-Erkrankung?

Ulmen-Fernandes: Zwei, drei Tage später bekam ich ein Kratzen im Hals und Husten - also genau die Corona-Symptome. Da bekam ich Angst und dachte: "Vielleicht bin ich ja schon mit Corona in den Bus gestiegen und habe alle anderen angesteckt." Also habe ich beim Arzt einen Corona-Test gemacht. Ich war immer noch sehr wütend über die Umstände in Tegel und habe überlegt, ob ich dazu was posten soll oder nicht. Ich dachte, dann kommen wieder die ganzen Corona-Pöbler! Und auf die hatte ich wirklich gar keine Lust. Als dann das negative Testergebnis kam, war ich echt erleichtert.

"#wirsindmehr ist der wichtigste Hashtag dieser Zeit"

teleschau: Den Leuten kann man es wohl kaum recht machen: Während des Lockdowns kritisierten die Instagram-User, dass Sie überhaupt drehen. Nun heißt es, Sie würden die Lage überdramatisieren ...

Ulmen-Fernandes: Ja, es ist schon eigenartig: Schon zu Beginn der Pandemie im März bin ich mit Mundschutz in den Flieger gestiegen. Damals hieß es, ich sei voll die Panikmacherin. Zwei, drei Monate später habe ich dann ein Bild von Dreharbeiten gepostet, auf dem ich vor der Kamera keine Maske trage, wie im Übrigen alle Moderatorinnen. Da hieß es dann: "Wie kannst du ohne Maske moderieren?" Da dachte ich mir: "Okay, als ich mit Maske ins Flugzeug gestiegen bin, war ich Panikmacherin. Und jetzt ist es genau umgekehrt." Du kannst es also gar nicht richtig machen, irgendeiner pöbelt immer.

teleschau: In manchen Medien war damals von einem Shitstorm die Rede.

Ulmen-Fernandes: Absurd! Wenn man nachzählt, waren es genau drei Leute, die sich negativ äußerten, weil die aber so viel geschrieben haben, bekamen sie eine wahnsinnige Aufmerksamkeit. Die 400 positiven Kommentatoren, die dem gegenüberstanden, sind daneben in der medialen Wahrnehmung leider komplett untergegangen.

teleschau: Negative Kommentare waren Sie schon vor der Corona-Krise gewohnt: Anfang Juni teilten Sie Auszüge aus extrem rassistischen Kommentaren auf Twitter und Instagram. Haben Sie Strategien entwickelt, damit umzugehen?

Ulmen-Fernandes: Nein, und das ist genau das Problem: Bei der Gender-Debatte gehe ich immer mit jedem in die Diskussion. Beim Thema Rassismus fehlen mir aber die Worte. Ich weiß nicht, wie ich darauf reagieren soll, und das ärgert mich selbst. Diese Rassisten kommentieren oft unter alte Posts: Nur ich sehe das dann in meinen Benachrichtigungen, sonst aber niemand. Deshalb bleibt es meist völlig unkommentiert. Als ich die Kommentare zum "Blackout Tuesday" öffentlich gemacht habe, sind mir hunderte Leute zur Seite gesprungen. Das hat mich wahnsinnig berührt! Insofern ist für mich der wichtigste Hashtag in dieser Zeit #wirsindmehr. Genau eine solche Menschenmauer, die sich schützend vor ihre Mitmenschen stellt, braucht es.

"Rassistische Beleidigungen sind drastischer geworden"

teleschau: Misstrauen gegenüber Fremden ist auch Thema Ihres neuen Kinderbuchs. Haben Sie bereits als Kind rassistische Erfahrungen gemacht?

Ulmen-Fernandes: Ich wurde schon oft von Journalisten gebeten, meine eigene Geschichte zum Thema Rassismus zu erzählen. Tatsächlich gibt es dazu aber nichts. Das einzige aus meiner Kindheit, an das ich mich erinnern kann, war die Frage, ob man mich auf einem Schwarz-Weiß-Foto überhaupt erkennt. Mittlerweile wird es aber von Jahr zu Jahr mehr. Ich glaube, dass sich die Grenze des Sagbaren verschoben hat. Die rassistischen Beleidigungen sind in der Wortwahl drastischer geworden, aber auch in der Menge.

teleschau: Wie bereiten Sie Ihre eigene Tochter auf solche Kommentare vor?

Ulmen-Fernandes: In der Kindergartenzeit hat meine Tochter mir erzählt, dass die anderen Kinder sie gefragt haben, warum ihre Mama keine normale Hautfarbe hat. Ich habe sie dann gefragt: "Was ist denn eine normale Hautfarbe?" - "Ja, so wie die anderen Mamas." Daraufhin habe ich ihr eines dieser tollen Stiftesets gekauft. Das enthält die breite Palette aller möglichen Hautfarben, von sehr hell bis sehr dunkel.

teleschau: Und Sie haben Ihr erstes "Lotti und Otto"-Kinderbuch geschrieben ...

Ulmen-Fernandes: Ganz genau! Ich finde es wichtig, dass man Kinder dafür sensibilisiert. Leider gibt es kaum Kinderbücher, die dieses Thema behandeln. Die meisten Bücher richten sich erst an Kinder ab zwölf Jahren. Also habe ich das selbst in die Hand genommen.

teleschau: Derzeit gibt es Diskussionen über Begriffe die Berliner "Mohrenstraße" oder das "Zigeunerschnitzel". Vor einigen Jahren wurden Begriffe wie "Negerlein" aus Kinderbuchklassikern wie "Die Kleine Hexe" gestrichen. Wie stehen Sie zu der Debatte?

Ulmen-Fernandes: Ich glaube, dass man generell auf Sprache achten sollte, sowohl beim Thema Rassismus als auch in der Gender-Debatte. In der ZDFneo-Doku "No more Boys and Girls" haben wir Kindern medizinische Utensilien präsentiert und gefragt, welcher Beruf sie verwendet. Die Antwort lautete "Arzt". Danach sollten die Kinder eine Person malen, die diesen Beruf ausübt. Die Mehrzahl malte einen Mann. Denn, wenn immer nur vom Arzt die Rede ist, stellt man sich natürlich einen Mann vor. Deswegen ist es so wichtig, auch von Ärztinnen zu sprechen. Ähnliches gilt für das Thema Rassismus: Man muss darauf achten, dass gewisse Worte nicht benutzt werden. Sprache entwickelt sich stetig weiter, und diese Entwicklung muss jeder selbst mittragen und als Gesellschaft mitformen.

"Gender-Marketing hat in den letzten Jahren extrem zugenommen"

teleschau: Das Thema Geschlechterklischees begleitet Sie schon länger. Was genau reizt Sie daran?

Ulmen-Fernandes: Meine Generation ist nicht so stereotyp aufgewachsen wie die Generation, die jetzt nachkommt. Das liegt daran, dass das Thema Gender-Marketing in den letzten Jahren extrem zugenommen hat. In meiner Kindheit war in der Spielwarenabteilung alles wild durcheinander: Da lagen Puppen neben Robotern und Autos. Deshalb hatte auch ich all das zu Hause. Heute gibt es stattdessen eine Jungen- und eine Mädchenabteilung. Und auch in den Katalogen stehen immer Mädchen an der Spielküche, während die Jungs in einem beruflichen Kontext als Polizist oder Feuerwehrmann gezeigt werden. Da muss man sich nicht wundern, dass diese Geschlechterbilder auf die Kinder abfärben. Und das wollten wir mit "No more Boys and Girls" aufzeigen.

teleschau: Haben die teilnehmenden Kinder durch die Doku denn ihre Einstellung geändert?

Ulmen-Fernandes: Auf jeden Fall. Wir haben den Kindern zum Beispiel eine Pilotin vorgestellt. Danach sagte ein Mädchen: "Ich wusste gar nicht, dass Frauen auch Flugzeuge fliegen können, aber jetzt will ich auch Pilotin werden." Deswegen ist es auch so wichtig, wie man Kinder prägt. Wenn man Kinderbücher hat, in denen immer nur Männer Flugzeuge fliegen, dann ist es klar, dass die Kinder denken, Frauen könnten das gar nicht. Deshalb war mir "Lotti & Otto" auch so wichtig: Um mit diesen unterbewussten Geschlechterklischees zu brechen.

teleschau: Inwiefern achten Sie bei der Erziehung Ihrer Tochter darauf?

Ulmen-Fernandes: Das ist leider nicht so einfach. Kinder orientieren sich ganz stark an ihrer Peergroup. Meine Tochter hat sich neulich eine Army-Hose gekauft, ist damit in die Schule gegangen und wurde gehänselt. Nun traut sie sich natürlich nicht mehr, die Hose anzuziehen. Das finde ich schade!

teleschau: Wie müsste sich die Gesellschaft ändern, um Geschlechterrollen endgültig aufzubrechen?

Ulmen-Fernandes: Generell müssen wir ganz früh ansetzen. In Schweden wird darauf geachtet, dass in den Spielwarenkatalogen sowohl Jungs als auch Mädchen mit Puppen spielen oder gemeinsam als Superhelden und Superheldinnen verkleidet die Welt retten. Früher dachte ich, die Welt sei gleichberechtigt. Doch seit ich selbst ein Kind habe, weiß ich es besser: Wenn das Kind krank ist, wird von der Frau verlangt, zu Hause zu bleiben. Gleiches gilt für das Homeschooling in der Corona-Krise. Ich glaube, man muss schon den kleinen Kindern vermitteln: "Hey, ihr seid beide für das zuständig."

"Mir werden sehr stereotype Frauen-Rollen angeboten"

teleschau: Auch Ihr ZDF-Herzkinofilm "Ein Sommer in Andalusien" bricht mit alten Rollenbildern ...

Ulmen-Fernandes: Oh ja! Bei klassischen "Mann trifft Frau"-Geschichten wie dieser ist es generell so, dass der Mann die Rolle eins ist und die Frau die Rolle zwei ist, weil er mehr Textanteil hat als sie. In diesem Film sind aber sowohl Rolle eins (Birte Hanusrichter, d. Red.) als auch Rolle zwei (Collien Ulmen-Fernandes, d. Red.) weiblich. Wir Frauen haben den größten Textanteil im Film, und das finde ich super!

teleschau: Ist es denn sonst wirklich so unausgeglichen?

Ulmen-Fernandes: Oh ja. Es gibt viel mehr Männer- als Frauenrollen. In Drehbüchern zähle ich immer, wie groß der Anteil der Männer- und der Frauenrollen ist. Meistens komme ich dabei auf einen Anteil von zwei Drittel Männer- und einem Drittel Frauenrollen.

teleschau: Aber in "Ein Sommer in Andalusien" war das anders ...

Ulmen-Fernandes: Die Produzentin Bernadette Schugg hat sehr darauf geachtet. Sie ist das ganze Drehbuch durchgegangen und hat aus jeder klassischen Männerrolle, wie zum Beispiel einem Polizisten, eine Frauenrolle gemacht. Ich finde das mega toll.

teleschau: Und was hat Ihnen an Ihrer Rolle gefallen?

Ulmen-Fernandes: Was ich an meiner Rolle mag, ist, dass sie so eine Lebenskünstlerin ist: Sie ist Taxifahrerin, sie ist Flamenco-Lehrerin, sie macht all das gleichzeitig. Sie haut auch mal einen Spruch raus und ist mehr der burschikose Typ.

teleschau: Achten Sie da bei der Rollenauswahl denn auf solche Klischees?

Ulmen-Fernandes: Ja, aber es ist gar nicht so einfach, weil ich tendenziell eher der Püppchen-Typ bin. Deshalb werden mir sehr stereotype Frauen angeboten. Umso mehr freue ich mich über jede Rolle, die anders ist.