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Ein gemütliches Apartment mit klitzekleinen Mängeln

Ich wohne in der 43. Straße im Stadtteil Manhattan, zwischen der 8.und 9. Avenue, in einem alten Haus. Es ist unten braun angestrichen und weiter oben gelb verklinkert. Vor den Fenstern hängen diese schrägen Feuerleitern, die es überall gibt. Nebenan liegt eine alte Schule, auf der oben Aufschriften über zwei getrennten Eingängen für „Boys“ und „Girls“ zu lesen sind. Schräg rechts gegenüber gibt es zwei Theater und eine Bude mit billiger Pizza. Schräg links liegt ein Spielplatz auf der anderen Seite und dahinter ein Basketballfeld.

Als ich die Straße das erste Mal gesehen habe, wusste ich, dass ich dort wohnen will, obwohl ich die Wohnung noch nicht angeschaut hatte. Mir gefielen die Schule und der Spielplatz. Ich bin gerne da, wo Kinder sind. Dann weiß man, dass das Leben weiter geht, und es ist nicht so schlimm, jedes Jahr ein Jahr älter zu werden.

Wenn man mein Haus betritt, kommt man in einen langen, sehr schmalen Gang. Rechts davon liegt im Erdgeschoss meine lange, sehr schmale Wohnung. Es ist ein „Rail-Apartment“, die Räume sind nacheinander aufgereiht. Vorne liegt das Schlafzimmer. Von dort kann man auf die Straße schauen, und es kommt Licht herein. Dann folgt das Wohnzimmer, das zugleich Küche ist. Und dann, noch weiter hinten, folgt das Bad.

Die Fenster sind amerikanisch konstruiert. Das heißt, man schiebt sie hoch, und manchmal fallen sie von allein wieder herunter. Zum Putzen muss man sie oben ausklinken und nach innen klappen, dabei kann es passieren, dass sie aus dem Rahmen springen. Weil das so umständlich ist, lassen viele New Yorker das mit dem Putzen lieber ganz bleiben. Europäische Fenster, die man ganz normal aufmachen kann, gelten als Luxus und werden fast so bestaunt wie deutsche Autos.

Mitten in meiner Wohnung hängt der Gaszähler von der Decke, wie ein abstruses Kunstwerk. Einmal kam ich nach Hause, und er lag abgeschraubt in der Ecke. Danach hatte ich Monate lang kein Gas zum Kochen, weil es ein Leck im Leitungssystem gab, das schwer zu finden war. Zum Glück haben die Handwerker hartnäckig danach gesucht. Ungefähr zur selben Zeit ist in Harlem ein anderes Haus wegen eines Gaslecks in die Luft geflogen. Dort hatte offenbar niemand rechtzeitig danach gesucht.

Die Heizung ist wahrscheinlich schon 100 Jahre alt oder so. Sie besteht aus langen Rohren, die vom Fußboden bis zur Decke reichen. Dadurch wird Dampf aus dem Keller nach oben geblasen. Manchmal dauert es im Herbst ein paar Tage, bis das Ganze funktioniert. Und dann ist es den ganzen Winter über viel zu warm und ich muss das Fenster aufmachen. Einmal ist die Heizung wochenlang ausgefallen. Da haben sie einen LKW vor die Tür gestellt und von dem aus über Schläuche das ganze Haus beheizt. Das hat eigentlich sogar besser funktioniert als die hauseigene Heizung. Das warme Wasser wird auch im Keller mit Öl aufgeheizt. Ich habe früher mal einen Text von einem amerikanischen Ökonomen gelesen: Der hat die Konjunktur mit einer Dusche verglichen: Entweder ist sie zu kalt oder heiß, und nie so, wie man sie gerne hätte. Seit ich in dieser Wohnung lebe, weiß ich, wie er das gemeint hat.


Als ich ein Pferd hörte, begann ich an meinem Verstand zu zweifeln

Im Bad ist eine Weile immer Wasser von der Decke in die Badewanne gelaufen, wenn der Mieter über mir geduscht hat. Das hat auf Dauer hässliche Flecken gemacht, deswegen hat der Vermieter Handwerker geschickt. Die haben eine niedrigere Decke eingezogen. Ich habe die Handwerker gewarnt, dass es wenig Sinn macht, diese Decke einzuziehen, so lange darüber die Wohnung immer noch undicht ist. Sie haben sich nicht beirren lassen. Danach ist dann jedes Mal, wenn der Mieter über mir geduscht hat, das Wasser überall in meinem Badezimmer heruntergekommen, zum Beispiel aus der Deckenlampe, vorzugsweise dann, wenn ich gerade Besuch hatte. Irgendwann haben sie die Wohnung oben dicht bekommen, danach ist aber ein Rohr in meinem Badezimmer geplatzt. Aber jetzt ist seit einer Weile alles trocken geblieben.

Wir haben einen Hausmeister, der kümmert sich um alles. Der sammelt den Müll im Hof ein und stellt die Säcke auf die Straße. Er fegt im Winter den Schnee weg. Manchmal putzt er auch das Treppenhaus, aber nur ganz selten. Wenn der Abfluss im Badezimmer verstopft ist, kommt er mit einem großen Bohrer und bohrt ihn auf. Als mein Waschbecken einen Sprung hatte, der sich nach und nach vergrößerte, hat er ein neues, ganz winziges angebracht, wahrscheinlich die US-weit billigste Ausführung. Ist verständlich: Die Wohnung kostet einschließlich Strom, Gas, Heizung, Internet und Fernsehen ja auch nur 2500 Dollar im Monat. Beinahe geschenkt. Ich bezahle sie jeden Monat, indem ich einen Scheck im Büro des Vermieters vorbei bringe. Bei der Gelegenheit kann ich dann gleich erzählen, was gerade alles nicht funktioniert, das ist sehr praktisch. Einmal hat der Hausmeister mein Badezimmer neu gestrichen. Ich hatte dort meine Badehose zum Trocknen aufgehängt, und deswegen hat er praktischerweise die Hose gleich mitgestrichen. Ein bisschen Schwund ist immer.

Einmal kam ich nach Hause und an der Eingangstür waren Schilder angebracht, die auf Geschäfte und Büros hinwiesen, obwohl es sich eigentlich um ein reines Wohnhaus handelt. Ich dachte schon das Gebäude wird umgewandelt, in ein Geschäftshaus. Als ich dann in der Wohnung stand, kletterte ein Mann auf eine Leiter, die in dem Schacht vor dem einzigen Fenster stand, durch das Licht hereinkommt, und klebte von außen ein Schild auf genau dieses Fenster. Ich ging nach draußen und fragte ihn höflich, warum er meine Wohnung verdunkelt. Er schaute überrascht zurück und sagte: „Wir drehen hier einen Film. Hat Ihnen das keiner gesagt?“ Ne, hatte keiner.

Meine Wohnung war also ein paar Tage lang noch dunkler als sonst. Dafür konnte ich von meinem Schlafzimmerfenster aus, an dem aufgeklebten Schild vorbei beobachten, wie gegenüber immer wieder ein Auto in Brand gesteckt wurde. Vielmehr wurde Feuer so hinter dem Auto angezündet, dass es aussah, als würde es brennen. Und dann lief ein bekannter Schauspieler vor dem Fenster vorbei und hinter ihm jemand mit einem Vogelkostüm. Der Film heißt „Birdman“ und bekam später einen Oscar. Er handelt von einem Schauspieler, der berühmt werden will und es endlich dadurch schafft, dass er aus Versehen in Unterhose über den Times Square läuft und die Videos davon überall auf Facebook zu sehen sind. Oder so ähnlich.

Ansonsten sind vor allem die Geräusche auf der Straße interessant. Ich höre sie sehr gut. Im Sommer mache ich das Fenster auf, weil es zu warm ist und im Winter auch - dann ist ja die Heizung zu warm. Man hört Leute vorbeilaufen, Autos fahren, die irrsinnig lauten Sirenen der Krankenwagen, die trotzdem keiner vorbeilässt und ab und zu das Getute eines Schiffs vom Hudson River. Als ich das erste Mal nachts ein Pferd gehört hab, begann ich an meinem Verstand zu zweifeln. Aber das war ein berittener Polizist. Die stehen mit ihren Pferden auf dem Times Square und lassen sich von den Touristen fotografieren, abends reiten sie dann zum Stall am Hudson River.

Erst seit ich auf der 43. Straße wohne, verstehe ich den New Yorker Komponisten John Cage. Der hat Musik komponiert, bei der gar keine Musik stattfindet. Die Zuhörer sollen nämlich auf die Symphonie der Geräusche um sie herum achten. Hat mit Zen-Buddhismus zu tun, glaube ich. Vor meinem Fenster findet wirklich jede Nacht eine Symphonie statt. Manchmal auch ein Drama, wenn ein Mann und eine Frau sich streiten. Dann fängt jedes dritte Wort mit F an und ich frage mich, warum den Amerikanern diese Beschäftigung immer gerade dann einfällt, wenn sie besonders aggressiv sind. Manchmal ist es ein normaler Ehestreit. Häufig scheint es auch zu so sein, dass ein Mann nicht kapiert, dass eine Frau kein Interesse an ihm hat (vielleicht fällt ihm deswegen das F-Wort ein?).

Ab und zu habe ich mich gefragt, ob ich nach draußen gehen und den Streit schlichten muss, aber in der Regel ebbt das irgendwann ohne größere Verletzungen ab. Manchmal, wenn die beiden nachts um vier direkt vor meinem offenen Fenster stehen und sich keinen Schritt weiter bewegen und kein Ende kriegen, dann bin ich sehr, sehr froh, dass ich keine Waffe auf dem Nachttisch liegen habe.

Gegenüber von mir leben in einer ebenso kleinen Wohnung zwei kleine, alte Chinesen, oder, korrekt gesprochen, Asian-Americans. Die sind immer sehr freundlich. Aber er bekommt manchmal einen Wutanfall auf chinesisch in einer ganz hohen Tonlage. Ich mache mir dann Sorgen, dass er gerade seine Frau umbringt, aber bisher hat er das noch nicht getan. Die beiden grüßen mich immer, und sie sind die einzigen, die das machen. Denn die New Yorker grüßen sonst nicht im Haus, sondern ignorieren einen, so wie auf der Straße. Außerdem wohnen viele junge Leute in dem Haus, die haben gar keine Zeit zu grüßen, weil sie beim Gehen auf ihrem Smartphone tippen und gleichzeitig per Kopfhörer Musik hören müssen. Ich stelle mir das sehr anstrengend vor. Manche joggen auch noch zusätzlich.

Insgesamt ist es eine gemütliche Wohnung mit kleineren Mängeln, zu einem überschaubaren Mietpreis. Ich werde sie vermissen, wenn ich dort ausziehe.