Die nicht gehörten Stimmen der Jungwähler

Nina Fischer ist schon ganz gespannt auf kommenden Sonntag, den 24. September. Nicht auf den Wahlausgang – der dürfte nach aktuellen Umfragen nicht überraschend werden – sondern auf das Gefühl, am Ergebnis mitgewirkt zu haben. Denn Nina ist 20 und Erstwählerin. Das Kanzlerduell im Fernsehen hat sie nicht bis zum Ende gesehen – sie musste noch für die Uni lernen. „Die beiden Kandidaten haben eh fast eine Stunde lang nur über Flüchtlingspolitik geredet“, sagt sie. Die Themen seien ihr nicht vielfältig genug gewesen.

15. September, knapp zehn Tage vor der Wahl: Ninas Briefwahlunterlagen liegen schon vor ihr, aber sie ist noch unentschlossen. „Ich habe schon eine Tendenz, aber ich bin mir noch nicht komplett sicher, was ich ankreuzen soll. Ich fühle mich von keiner Partei sehr gut vertreten“, sagt sie. Das geht nicht nur Nina so. Viele junge Leute in Deutschland, die bei der Bundestagswahl 2017 das erste Mal wählen werden, haben Schwierigkeiten, sich für eine Partei oder einen Kandidaten zu entscheiden. Jugendliche wollen sich politisch engagieren, Jugendliche wollen gehört werden. Aber viele von ihnen fühlen sich nicht von Politikern vertreten; sie wissen nicht, was Politiker für ihre Generation verändern wollen.

Das jüngste Mitglied des Deutschen Bundestages (MdB) heißt Ronja Kemmer und ist 28. Wenn sie über die junge Generation spricht, sagt sie „wir“. Die junge CDUlerin ist eine, die junge Menschen versteht und sich für ihre Interessen einsetzt. Doch nur weitere neun Prozent der Abgeordneten sind jünger als 40. Dabei gibt es in Deutschland laut Bundeswahlleiter 2,2 Millionen Jungwählerinnen und Jungwähler zwischen 18 und 21, die zur Bundestagswahl 2017 zugelassen sind.

Die Jungwähler machen nur 3,6 Prozent der gesamten wahlberechtigten Bevölkerung aus. Deswegen könnten sie das Wahlergebnis nicht stark beeinflussen, schreibt Viola Neu in einem Arbeitspapier der Konrad-Adenauer-Stiftung. Dennoch fordern die Jungen, dass an ihre Zukunft gedacht wird und dass sie dabei mitreden können. Die Politiker allerdings dürften sich vor allem für die Stimmen der Älteren interessieren; immerhin ist laut dem Bundesinstitut für Bevölkerungsforschung jeder zweite Wahlberechtigte älter als 52.

An einem Diskussionsabend der Türkischen Gemeinde Deutschland und des Jugendverbandes Young Voice in Berlin-Neukölln haben Politiker fünf verschiedener Parteien – namentlich CDU, SPD, Grüne, Linke und FDP – aus dem Berliner Abgeordnetenhaus mit jungen Berlinern gesprochen. Zu Beginn zeigt Young Voice ein paar selbstgedrehte Interviews. In einem sagt ein Junge mit Namen Silas: „Wenn eine Generation sich nicht vertreten fühlt, dann sind das die Jugendlichen.“ Ein anderes Mädchen sagt im Video, dass zum Beispiel das Thema Steuern andauernd besprochen werde – aber nicht mit den Jugendlichen. Dabei seien sie doch diejenigen, die in Zukunft von der jetzigen Steuerpolitik betroffen sein würden.

Dennis Sadik Kirschbaum, ein Poetry Slammer der Gruppe „I, Slam“, eröffnet den Diskussionsabend. Dennis Name hat einen deutschen, einen jüdischen und einen muslimischen Ursprung zugleich. Er hat deswegen oft mit Vorurteilen zu kämpfen – auch wegen seines dunklen, dichten, wuschigen Bartes. „Mit diesem Bart kannst du nur jüdisch-orthodox sein“, hörte er mal als Verkäufer an einer Supermarktkasse. „Mit diesem Bart kannst du nur ein Salafist sein“, behauptete hingegen mal ein Kommilitone ihm gegenüber.

Nach seiner Geschichte über sein Leben in Deutschland klatschen die Jugendlichen im Publikum. „Ich habe nur einen Pass, einen deutschen, und ich liebe mein Land. Ich werde hier bleiben, auch wenn das nicht passt!“, ruft Dennis. Noch mehr Applaus. Integration und Migration sind Probleme, die Jungwähler bewegen.


#Gerechtigkeit

Cihan Sinanoglu engagiert sich bei Young Voice. Er ist schon 35 und wird am Sonntag zum vierten Mal wählen. Er hat zwar schon ein paar Wahlen mitgemacht und versteht die Relevanz der großen Themen wie Außenpolitik. Er sei zum Beispiel dafür, dass die Krisenherde auf der Welt bewältigt und die Waffenexporten gestoppt werden, sagt er. Aber er wisse auch, welche jungen Themen „nicht genügend angepackt“ würden: zum Beispiel das Thema Umweltpolitik. Das umtreibt auch andere Jungwähler.

Die 20-jährige Nina zum Beispiel. „Mir sind Umweltpolitik und soziale Gerechtigkeit sehr wichtig. Aber beim Thema soziale Gerechtigkeit vertraue ich keiner Partei so richtig“, sagt sie. „Alle reden immer von Gleichberechtigung, aber da steht nicht viel dahinter. Ich finde auch nicht, dass die SPD eine super-soziale Politik macht.“

Dmitri Geidel ist anderer Meinung. Der stellvertretende Fraktionsvorsitzende der SPD im Berliner Abgeordnetenhaus und der stadtentwicklungspolitische Sprecher der SPD-Fraktion setzt sich gegen Armut und Kinderarmut ein, vor allem in seinem Bezirk Marzahn-Hellersdorf. Er will dort bessere Schulen und Kitas aufbauen. „Es sollen nicht nur die Schulen in reicheren Regionen saniert werden, sondern auch die in ärmeren“, sagt Geidel. Das Problem der ärmeren Bezirke sei es, dass viele Eltern nicht genügend Zeit hätten, sich an den Schulen ihrer Kinder zu engagieren – und das läge daran, dass sie zu viel arbeiten müssten, weil ihr Stundenlohn nicht reiche. Das sei ungerecht, findet der 27-Jährige.

Mit seinem Wahlspruch „#Gerechtigkeit“ will Geidel nicht nur die armen Familien erreichen, sondern er will auch die Stimmen der jungen Menschen in Berlin bekommen. Der jungen Menschen, die das auch ungerecht finden. Um mit den Jugendlichen in Kontakt zu treten, habe er im Wahlkampf oft Schulen besucht und Flyer verteilt, sagt der frühere Schülersprecher, der mit 16 zu den Jusos gegangen ist. „Ich habe auch meine Whatsapp-Nummer angegeben – und später am Tag hatte ich dutzende Chatgespräche mit jungen Menschen auf meinem Handy.“

Miriam Kemski ist 24. Sie wird am Sonntag zum zweiten Mal wählen gehen. Sie sei durch ihr Studium der Sozialen Arbeit sehr an sozialer Gerechtigkeit interessiert. Die CDU propagiere, dass es allen in Deutschland so gut gehe, sagt Miriam. „Aber das trifft nicht auf ganz Deutschland zu. Ich finde schon, dass die Schere zwischen Arm und Reich ziemlich groß ist. Es muss mehr darauf geachtet werden, dass die Armut – gerade bei Kindern – weniger wird.“ Deswegen sprächen die Linken sie an, sagt Miriam. „Ich finde, dass die Linke die konkretesten Vorschläge hat, wie man Deutschland besser gestalten und gerechter machen kann.“

Sie findet das Steuerkonzept der Linken gut, weil sie eine Vermögenssteuer einführen wollen. In ihrem Wahlprogramm schreibt die Linkspartei, dass sie Vermögen ab einer Million Euro mit fünf Prozent besteuern will. Sie will zudem sicherstellen, „dass Privatvermögen nicht in Betriebsvermögen ‚versteckt‘ wird“. „Eine solche Vermögenssteuer würde 80 Milliarden Euro Mehreinnahmen im Jahr bringen“, rechnen die Linken vor.

Miriam findet außerdem gut, „dass die Linken den Spitzensteuersatz anheben wollen. Es ist ziemlich ungerecht, dass es so viele Milliardäre gibt und dass die so einen großen Teil des Geldes in Deutschland besitzen.“ Dazu steht im Wahlprogramm, dass Einkommen ab 70.000 Euro im Jahr mit 53 Prozent besteuert werden sollen – statt mit den jetzt durchschnittlichen rund 30 Prozent.


Nicht von Wahlplakaten angesprochen

Ronja Kemmer, die jüngste Abgeordnete, sagte in einem Interview mit Zoomin.TV: „Ich denke, für junge Leute ist das Thema Digitalisierung und ihre Infrastruktur besonders wichtig. Habe ich schnelles Internet – auch gerade im ländlichen Raum? Habe ich eine gute Mobilfunkverbindung? Das sind Themen, die natürlich alle, aber insbesondere auch junge Menschen bewegen.“ Cihan von Young Voice sehe bei der Digitalisierung bei allen Parteien Nachholbedarf. Auch Erstwählerin Nina fühle sich hier nicht angesprochen: „Auf den FDP-Wahlplakaten steht immer: ‚Die Digitalisierung verändert alles.‘ Aber ich weiß gar nicht, was die mir damit sagen wollen.“

Schon im November 2015 nennt Christian Lindner, Bundesvorsitzender der FDP, die Digitalisierung in einer Rede eine „fundamentale Veränderung unseres Lebens und unseres Wirtschaftens“. Dahinter stecke für ihn: Bildung, digitale Infrastruktur, Modernisierung der öffentlichen Verwaltung, Datenschutz und Regeln für den Datenmarkt. Kurz vor der Bundestagswahl 2017 steht im Wahlprogramm zum Beispiel, dass die FDP in den nächsten fünf Jahren pro Schüler zusätzlich 1000 Euro für Technik und Modernisierung investieren will.

Außerdem wollen die Freien Demokraten eine Open-Data- und eine Open-Government-Strategie, also dass nicht-unternehmensbezogene und nicht-personenbezogene Daten veröffentlicht und frei zugänglich gemacht werden. Die FDP fordert auch ein Digitalministerium und dass Drohnen bei Rettungseinsätzen benutzt werden können. Doch all diese Forderungen gehen aus den Wahlplakaten nicht klar hervor.

Die Themen der Jugendlichen könnte man unter den Stichworten Integration und Migration, soziale Gerechtigkeit, Bildung, Digitalisierung und Umweltpolitik zusammenfassen. Zum Teil stimmt das mit den Themen überein, die dem Rest der Bevölkerung am wichtigsten sind, zum Teil nicht.

Das auf politische Meinungs- und Wahlforschung spezialisierte Umfrageinstitut Infratest Dimap fand heraus, dass ein paar Themen die Deutschen am meisten zur Wahl mobilisieren würden. Schul- und Bildungspolitik ist demnach 64 Prozent der Befragten „sehr wichtig“. Dass Terrorismus bekämpft wird, finden 59 Prozent der etwa 1000 Befragten „sehr wichtig“, und eine gute Absicherung im Alter ist 57 Prozent „sehr wichtig“. Die Zuwanderung von Flüchtlingen ist beispielsweise nur für 27 Prozent ein „sehr wichtiges“ Thema – und der Ausbau einer digitalen Infrastruktur nur für 24 Prozent.

Deswegen haben viele junge Menschen das Gefühl, die Politiker würden sie nicht erreichen, weil sie die Themen nicht altersgerecht ansprechen. Miriam meint: „Ich wünsche mir von Politikern am meisten, dass sie mehr auf Jungwähler eingehen. Ich fand es schon sehr bezeichnend, als für den Brexit gestimmt wurde: Da hat die alte Generation über die Zukunft der jüngeren Generation entschieden. Deswegen sollte man – auch in Deutschland – mehr auf die Wünsche der Jungen eingehen.“

Nina sieht das ähnlich: „Die CDU zum Beispiel macht Politik für Ältere, es geht häufig um Rente. Klar wird uns das auch mal betreffen. Aber ich wüsste jetzt gar kein Thema, das die CDU für jüngere Leute macht.“ Ihre Briefwahlunterlagen hat Nina mittlerweile abgeschickt. „Ich wünsche mir von Politikern, dass sie keine Versprechungen machen, die sie nicht einhalten“, sagt sie. Darauf kann sie auch nach dem Wahlsonntag noch gespannt sein.