Filmkritik: Avengers: Age of Ultron - Eine Liebeserklärung

(Bild: © Marvel 2015)

Eine Geste der Zuneigung. Fast beiläufig, noch bevor die Helden von Joss Whedons “Avengers: Age of Ultron” damit beginnen, die Leinwand zu stürmen und mit lautem Getöse das erste von zahlreichen Action-Feuerwerken zu entfachen.

Wir befinden uns in Sokovia, einem fiktiven, osteuropäischen Land im Marvel Cinematic Universe. Mit vereinten Kräften stürmen Iron Man, Captain America, Thor, Hawkeye, Black Widow und der Hulk eine Bastion von Hydra, jener Terrororganisation, die jahrelang den Geheimdienst S.H.I.E.L.D. infiltriert und im Zuge der Ereignisse in “The Return of the First Avenger” zu Fall gebracht hat. Und während draußen die scheinbar unbesiegbaren Rächer im schneebedeckten Wald wüten, bereitet sich im Inneren der Festung ein Geschwisterpaar auf den Gegenangriff vor. Bevor es losgeht, halten sich Pietro und Wanda Maximoff noch einmal fest an den Händen. Eine kleine, aber entscheidende Geste der Zuneigung, die uns das tiefe Band zwischen den beiden gleich zu Beginn des Films vor Augen führt. Schließlich haben die Zwillinge nur noch sich selbst – und einer der Avengers hat Schuld daran.

(Bild: © Marvel 2015)

Age of Ultron

Der Kampf gegen die Hydra-Schergen ist nur der Prolog, der eigentliche Feind, den es im Laufe des Films zu bekämpfen gilt, wird erst noch erschaffen. Die Maximoffs können entkommen, die Hydra-Festung wird jedoch erfolgreich eingenommen. Mehr noch: Die Helden können das von Hydra gestohlene Zepter wiedererlangen, mit dem Thors verschlagener Bruder Loki im ersten Avengers-Film für Unheil gesorgt hatte. Zurück im Avengers-Hauptquartier versuchen Tony Stark (Robert Downey Jr.) und Bruce Banner (Mark Ruffalo) mit der am Zepter befindlichen Energiequelle eine künstliche Intelligenz zu erschaffen, mit der die Erde vor künftigen Angriffen aus dem All geschützt werden soll: Ultron.

Das Vorhaben geht jedoch gründlich schief. Innerhalb kürzester Zeit entwickelt Ultron ein eigenes Bewusstsein, konstruiert einen kybernetischen Körper, in den er sich transferieren kann und erklärt den Avengers den Krieg. Zudem holt er sich Verstärkung: Mithilfe der Maximoff-Zwillinge will der völlig außer Kontrolle geratene Metall-Pinocchio die Superheldentruppe in Stücke reißen.

So wie die Avengers erblickte auch Ultron in den Comic-Vorlagen aus dem Hause Marvel bereits in den 1960ern das Licht der Welt. Wie beim Marvel Cinematic Universe üblich, wird die Inspirationsquelle mit dem nötigen Respekt, aber auch mit den nötigen Freiheiten in den filmischen Superheldenkosmos integriert. Unter Joss Whedons Federführung ist der im englischsprachigen Original herrlich eigenwillig von James Spader synchronisierte Bösewicht ein Roboter, wie man ihn noch nicht auf der Leinwand erlebt hat. Launig, wütend, emotional, unberechenbar.

(Bild: © Marvel 2015)

Quicksilver und Scarlet Witch

Nicht das erste Mal, das sich der Drehbuchautor und Regisseur mit den Konsequenzen künstlicher Intelligenz auseinandersetzt. Bereits in der von Joss Whedon geschriebenen und John Cassaday gezeichneten Comic-Reihe “Astonishing X-Men” hat er einer Gruppe von Marvel-Helden ein außer Kontrolle geratenes Maschinenwesen gegenübergestellt. Während dessen erste Amtshandlung darin bestand, einen hadernden Jugendlichen in den Selbstmord zu treiben, ist das Brisante an Ultron der Grund, warum er von Tony Stark überhaupt konzipiert wurde: globaler Frieden. Der gescheiterte Versuch, die allumfassende Sicherheit der Menschheit mit technologischen Mitteln herbeizuführen, wurde von Whedon schon in seinem Science-Fiction-Film “Serenity” verhandelt und verweist auch in “Age of Ultron” auf gefährliche Tendenzen der westlichen Welt, die Lösung politischer, gesellschaftlicher und militärischer Konflikte bereits im Vorhinein auf technokratischem Wege erzwingen zu wollen. Vorratsdatenspeicherung, Kampfdrohnen, weltweite Datenüberwachung: Das Zeitalter Ultrons mag noch nicht angebrochen sein, im Age of PRISM befinden wir uns schon lange.

Die Spuren schiefgegangener Konfliktlösungsversuche des Westens ziehen sich wie ein roter Faden durch Whedons Film, blitzen in Form antikapitalistischer Graffitis in den umkämpften Straßen Sokovias auf, zeichnen sich in den tiefsitzenden Narben der Maximoffs ab. Ohnehin gehören die Zwillinge, die in der Tradition Whedonesquer Geschwisterpaare wie Mel und Harth aus der Comic-Reihe “Fray” sowie River und Simon aus der Sci-Fi-Serie “Firefly” stehen, zu den willkommensten Neuzugängen des “Avengers”-Sequels. Pietro (Aaron Taylor-Johnson) und Wanda (Elizabeth Olsen), die genau wie Ultron schon seit den 60ern ein fester Bestandteil des Marvel-Universums und in den Comics auch unter den Namen Quicksilver und Scarlet Witch bekannt sind, mischen die ohnehin äußerst fragile Gruppendynamik der Avengers ordentlich auf.

(Bild: © Marvel 2015)

In den Köpfen der Avengers

Die Superkräfte der beiden – Quicksilver ist übermenschlich schnell, Scarlet Witch hat hexengleiche Kräfte (oder mit den Worten von S.H.I.E.L.D.-Agentin Maria Hill: “He’s fast, she’s weird.”) – sind nicht nur optisch hübsch anzuschauen, sondern auch dramaturgisch von zentraler Bedeutung. Bei Scarlet Witch liegt das vor allem an der Fähigkeit, im Bewusstsein anderer Leute herumpfuschen zu können – wovon sie bei den Avengers ausgiebig Gebrauch macht. Ihre Kräfte erlauben es Whedon, die tiefsitzenden Zweifel, Ängste und Traumata der Helden an die Oberfläche zu holen und in ebenso kunstvoll wie atmosphärisch inszenierten Traumsequenzen sichtbar werden zu lassen. Tony Starks Befürchtung, irgendwann für den Tod seiner Freunde verantwortlich zu sein. Steve Rogers’ Sehnsucht nach seinem alten Leben. Bruce Banners Anger Management-Problem. Natasha Romanoffs finstere Vergangenheit. Wie einst in “Astonishing X-Men” nutzt Whedon auch hier die Kräfte einer Telepathin, um mit chirurgischer Präzision in die Köpfe der einzelnen Mitglieder seines komplexen Figurengeflechtes vorzudringen. Ob Shakespeare-Charaktere in “Much Ado About Nothing”, Weltraumhelden in “Serenity” oder die Avengers im Marvel Cinematic Universe: Kein anderer Genre-Filmemacher versteht es, derart große, vielfältige Ensembles so virtuos zu orchestrieren wie Joss Whedon.

Von Whedons ausgefeilter, bis ins Mark der Helden vordringenden Figurenzeichnung profitieren auch seine weiblichen Charaktere in einer Weise, die in der kulturindustriellen Phantastik Hollywoods nach wie vor die Ausnahme bleibt. Vor allem die von Scarlett Johansson verkörperte Black Widow ist längst nicht mehr nur die sexy Kampfmaschine ohne nennenswerte Eigenschaften aus “Iron Man 2”. Natasha Romanoff hat sich im Laufe der Marvel Cinematic Universe-Reihe zu einer zunehmend vielschichtigen Persönlichkeit entwickelt und offenbart nun in “Avengers: Age of Ultron” ganz neue Facetten, die aus der Larger-than-Life-Heldin eine Frau mit sehr realen, weltlichen Ängsten machen.

(Bild: © Marvel 2015)

Das Ende der Reise

Die menschliche Dimension der übermenschlichen Helden mit aller Sorgfalt herauszuarbeiten, ist in gewisser Weise das Hauptanliegen des witzigen, blitzgescheiten und lauten, in entscheidenden Momenten aber wunderbar leisen Films. Das zeigt sich nicht zuletzt an Hawkeye (Jeremy Renner), der über weite Strecken des ersten, ebenfalls von Whedon geschriebenen und inszenierten “Avengers”-Abenteuers ein dramaturgisch bedingtes Dasein auf der Reservebank fristen musste und nun als Wiedergutmachung mit einem der schönsten und überraschendsten Story-Arcs des gesamten Films belohnt wird. In Clint Bartons individueller Geschichte spiegelt sich nicht nur der Vermenschlichungsprozess der Avengers auf besonders prägnante Weise wider, sondern auch der im Auftrag der Marvel Studios zurückgelegte Weg Whedons, dessen “Age of Ultron” den Endpunkt seiner Reise an der Seite der Avengers markiert. Das Ruder übernehmen nun die Russo-Brüder, damit sich Whedon wieder anderen, gänzlich neuen Geschichten außerhalb des Marvel-Kosmos widmen kann, nachdem er mit seinen beiden erfolgreichen Blockbustern gezeigt hat: Auch im großbudgetierten Konzert der in erster Linie auf Profit orientierten Big Player der Branche ist Platz für ein eigenwilliges, der persönlichen Handschrift sowie den eigenen Ansprüchen treu bleibendes Solo.

Zwei Geschwister, die sich inmitten von Tod und Chaos hoffnungsvoll an den Händen halten. Ein grüner Riese, der in den Augen seiner Freundin die Verheißung auf ein besseres Leben zu erkennen glaubt. Ein künstliches Wesen, das in dunkler Nacht zum ersten Mal sein eigenes Spiegelbild erblickt, empfindet Mitleid für seinen Feind. Eine Gruppe einsamer Superhelden zelebriert einen letzten, gemeinsamen Triumph, bevor die Party endgültig zu Ende ist. Das sind nicht nur Zeichen der Zuneigung für diese Menschen und die phantastische Welt, in der sie leben. Das ist eine Liebeserklärung.

Autor: Carlos Corbelle

Kinostart: 23. April 2015

Avengers: Age of Ultron (USA 2015), Genre: Science-Fiction, Action, Regie: Joss Whedon, Cast: Robert Downey Jr., Chris Evans, Scarlett Johansson, Mark Ruffalo, Chris Hemsworth, Jeremy Renner, Elizabeth Olsen, Aaron Taylor-Johnson, Paul Bettany, James Spader, Laufzeit: 141 Minuten, FSK: ab 12 Jahren.