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Film über Hetze und Gewalt gegen Politiker: "Angriff auf die Demokratie an sich"

Aus dem Alltag einer jungen Politikerin: Ricarda Lang, mit Omid Nouripour eine der Bundesvorsitzenden von Bündnis 90/Die Grünen, muss sich mit "Hass, Hetze, Gewalt" auseinandersetzen. Der Regisseurin Anja Michaeli und ihrem Team liest sie Hassnachrichten via Twitter vor. (Bild: ZDF/Anja Michaeli)
Aus dem Alltag einer jungen Politikerin: Ricarda Lang, mit Omid Nouripour eine der Bundesvorsitzenden von Bündnis 90/Die Grünen, muss sich mit "Hass, Hetze, Gewalt" auseinandersetzen. Der Regisseurin Anja Michaeli und ihrem Team liest sie Hassnachrichten via Twitter vor. (Bild: ZDF/Anja Michaeli)

TV-Journalistin Anja Michaeli hat für das ZDF einen Film über Haas, Hetze und Gewalt gegen Politiker gedreht. Im Interview spricht sie über die Hintergründe und zum Teil unfassbaren Erfahrungen ihrer Protagonistinnen und Protagonisten.

Die Reportage-Reihe "37°" im ZDF erzählt bekanntlich von Menschen und ihren Geschichten, immer direkt und mitten aus dem Leben heraus. Das ist auch in der neuen Folge am Dienstag, 3. Mai, 22.15 Uhr, nicht anders. Das Besondere jedoch ist: Diesmal geht es um Politiker. In "37°: Hass, Hetze, Gewalt" schildern die Protagonisten wie Ricarda Lang, Bundesvorsitzende und Frauenpolitische Sprecherin von Bündnis 90 / Die Grünen, ihre leidvollen, zum Teil erschütternden Erfahrungen mit Anfeindungen in den sozialen Medien und im Alltag. Filmemacherin Anja Michaeli unterstreicht im Interview den Ernst der Lage.

teleschau: "Hass, Hetze, Gewalt": Der Titel Ihrer "37°"-Reportage könnte eindeutiger nicht sein. Wollten Sie bewusst polarisieren?

Anja Michaeli: Ja, der Ansatz war schon, mit dem Titel manche Leute vielleicht ein bisschen wachzurütteln. Aber es geht nun mal genau darum: um Hass, Hetze und Gewalt. Wir haben uns viele Gedanken über den Titel gemacht. Es gab viele Ideen und Vorschläge. Aber das Ganze sollte nicht verniedlicht werden. Das Thema ist sehr ernst. Wir haben drei Hauptfiguren, die das auf schlimmste Art und Weise erleben.

teleschau: Gab es einen konkreten Anlass für Ihre Recherche?

Michaeli: Wir hatten eigentlich ein anderes Thema recherchiert: über den Wahlkampf zur Bundestagswahl. Als wir bei einem Kommunalwahlkampf mitbekamen, dass es offenbar nicht mehr nur in Einzelfällen vorkommt, dass Kandidaten mit Morddrohungen zu kämpfen haben und sie verbal, manchmal sogar tätlich angegriffen werden, waren wir so schockiert, dass wir das Thema direkt beim ZDF eingereicht haben. Dann begannen wir sofort mit den Recherchen und suchten nach Protagonisten, die bereit sind, uns ihre unterschiedlichen Geschichten zu erzählen.

teleschau: Sie haben durchaus prominente Politiker begleitet ...

Michaeli: Zum einen ist Ricarda Lang von den Grünen zu sehen. Sie hatte, damals noch als stellvertretende Bundesvorsitzende ihrer Partei, einen Auftritt bei "Hart, aber fair" und ist danach böse angegangen worden. Man merkte, dass sie im Mittelpunkt des Hasses steht - offenbar auch, weil sie eine Frau ist. Es geht nie um nur Inhalte bei Frauen in der Politik, sondern auch um äußerliche Aspekte. Zum anderen haben wir den Oberbürgermeister von Frankfurt/Oder dabei, René Wilke (Die Linke, d. Red.). Er hat eine ganz besondere Art, um mit aggressiven Leuten umzugehen: Er besucht sie direkt zu Hause und klingelt bei ihnen der Tür, um das Gespräch zu suchen. Der Dritte im Bunde der Politiker ist Andreas Hollstein von der CDU. Er war zwischen 1999 und 2020 Bürgermeister der westfälischen Stadt Altena und wurde vor fünf Jahren zum Opfer eines Messerangriffs.

"Besondere Art, mit Leuten umzugehen": Im "37°"-Film von Anja Michaeli wird auch der Oberbürgermeister von Frankfurt/Oder, René Wilke (Die Linke), im Alltag begleitet. Er musste bereits öfter die Polizei einschalten. (Bild: ZDF/René Matschkowiak)
"Besondere Art, mit Leuten umzugehen": Im "37°"-Film von Anja Michaeli wird auch der Oberbürgermeister von Frankfurt/Oder, René Wilke (Die Linke), im Alltag begleitet. Er musste bereits öfter die Polizei einschalten. (Bild: ZDF/René Matschkowiak)

"Manche Täter wollen sich selbst erhöhen, verarbeiten vielleicht Komplexe"

teleschau: Auch Künstler oder Journalisten, im Grunde alle Personen des öffentlichen Lebens, sind heute potenzielle Ziele von Anfeindungen. Warum haben Sie sich für die Politiker entschieden?

Michaeli: Weil sie in der ersten Linie der Verantwortung stehen. Wir erzählen ihre Geschichten aber gewissermaßen stellvertretend für so viele, die sich ehrenamtlich engagieren. Diese Menschen setzen sich für unser Land und die Demokratie ein und werden dafür attackiert. Im Grunde geht es also darum, dass hier unsere Demokratie an sich angegriffen wird. Das macht unsere Story relevant.

teleschau: Nach allem, was Sie in den vergangenen Monaten erfahren haben: Warum richtet sich der Hass so oft gerade gegen jene, die sich für die Allgemeinheit engagieren?

Michaeli: Gute Frage - aber man kann sie natürlich nicht allgemein beantworten. Ich vermute, es geht hier auch oft tief ins Psychologische. Viele Täter scheinen zu glauben, sie haben ein Gefühl von Macht, wenn sie auf andere losgehen, sie verbal angreifen und versuchen kleinzumachen. Manche Täter wollen sich selbst erhöhen, verarbeiten vielleicht eigene Komplexe. Andere wissen jedoch ziemlich genau, wie sie es anstellen müssen, um auf Entscheidungsträger einzuwirken. Erstaunlich finde ich, wie naiv da bisweilen über das Thema Strafrecht nachgedacht wird. Manche rechnen auch überhaupt nicht damit, dass die Hasskommentare oder E-Mails von den Adressaten gelesen werden.

teleschau: Wie erlebten Sie Ihre Protagonisten im Umgang mit Hass und Hetze?

Michaeli: Sie waren, wenn man das so sagen kann, erstaunlich unbeeindruckt. Sie sind alle sehr selbstsicher aufgetreten, deshalb sind auch alle noch im politischen Amt. Aber klar ist, dass es auch unzählige engagierte Menschen gibt, die ihr Amt abgegeben, ihre Kandidatur zurückgezogen haben oder wegen solchen Vorfällen erst gar nicht mehr antreten wollen. Und das sind wirklich Massen, es handelt sich da nicht um Einzelfälle. Eine enorme Bedrohung für unsere Demokratie!

teleschau: Was, glauben Sie, motiviert die von Ihnen porträtierten Politiker, unbeirrt weiterzumachen?

Michaeli: Die Überzeugung, dass sie von ihrem Umfeld und der Mehrheit der Gesellschaft getragen werden. Das sagen sie auch alle ganz deutlich im Film. Trotzdem geht das alles nicht spurlos an ihnen vorbei - auch das hört man in dem Beitrag, auch zwischen den Zeilen.

Andreas Hollstein von der CDU war zwischen 1999 und 2020 Bürgermeister der westfälischen Stadt Altena und wurde vor fünf Jahren zum Opfer eines Messerangriffs. Im "37°"-Film  erzählt auch er von Hass und Gewalt gegen seine Person. (Bild: ZDF/Paul Schneider)
Andreas Hollstein von der CDU war zwischen 1999 und 2020 Bürgermeister der westfälischen Stadt Altena und wurde vor fünf Jahren zum Opfer eines Messerangriffs. Im "37°"-Film erzählt auch er von Hass und Gewalt gegen seine Person. (Bild: ZDF/Paul Schneider)

Politischer Wille für eine funktionierende Demokratie

teleschau: Was ist das zentrale Anliegen Ihres Films?

Michaeli: Letzten Endes geht es darum, politische Arbeit und die Umstände, unter denen sie heute erledigt wird, transparent zu machen. Die Zuschauer erleben die Menschen im Alltag, sie hören und sehen, was Politikern heute mithin passiert. Gleichzeitig soll der Beitrag auch zeigen, dass die Politiker sich nicht kleinkriegen lassen. Sie werden hier ja keinesfalls als Opfer dargestellt.

teleschau: Ist Social Media das Kernproblem?

Michaeli: Nun, die sozialen Medien sind für die Politiker wohl sowohl Fluch als auch Segen. Der gigantische Vorteil ist, dass man seine Botschaften schneller verbreiten kann. - Nur haben viele Politiker hier noch enormen Nachholbedarf. Aber sie lernen dazu ... Jedem ist klar, dass das Feld den Populisten nicht kampflos überlassen werden darf. Man muss auch lernen, mit einer gewissen Nüchternheit auf das Thema zu blicken, um die Reflexe zu verstehen, die da teilweise dahinterstehen. Es gibt Studien, die belegen, dass zwei Drittel Frauen und ein Drittel der Männer von dem Online-Hass betroffen sind. Natürlich ist es die Folge, dass sich weniger Frauen in der Politik engagieren wollen. Da muss die Gesellschaft gegensteuern. Frauen in der Politik brauchen Unterstützung von ihren Familien und den Parteien.

teleschau: Welche Art von Hass trifft die Politiker, die Sie begleiteten?

Michaeli: Es gibt alles. Die Täter machen Sachen kaputt, Scheiben werden eingeschmissen, tote Tiere vor die Haustür gelegt. Es gibt Morddrohungen, Vergewaltigungsandrohungen, Beleidigungen. Die ganze Bandbreite. Von der Polizei gab es auch eine Untersuchung, die belegt, dass sich von 2019 auf 2020 die Zahl der Straftaten gegen Amtsträger verdoppelt hat. Aber mittlerweile wird mit Portalen, Gesetzespaketen und Anzeigen reagiert.

teleschau: Haben die Dreharbeiten Ihre Sichtweise zur Politik noch mal verändert?

Michaeli: Ich war erschrocken! Ricarda Lang hat uns Tweets vorgelesen, und ich habe Gänsehaut bekommen. Ich habe gelernt: Es ist nicht einfach in der Politik heutzutage, und ich weiß nicht, ob ich das machen könnte.

teleschau: Würden Sie jungen Menschen trotzdem empfehlen, sich politisch zu engagieren?

Michaeli: Ja, ich würde sagen: "Mach es!" Es gibt nichts Wichtigeres als Demokratie, und ich bewundere Menschen, die sich dafür einsetzen. Ich weiß, wie hart Politiker arbeiten müssen. Und dieser Job ist essenziell für unser Land. Dieses Bewusstsein kann einen auch sehr zufrieden machen - trotz allem. Auch das ist eine Botschaft dieser "37°"-Reportage.