Hinter der Fassade der "Colonia Dignidad": Wer war Täter, wer war Opfer?

In Chile, fast am anderen Ende der Welt, lebte 40 Jahre lang eine deutsche Sekte. Eine vierteilige Dokumentation gibt nun ungeheuerliche und bislang kaum gezeigte Einblicke in die berüchtigte "Colonia Dignidad".

Sie nannten ihre Gemeinschaft "Kolonie der Würde". Doch hinter der Fassade eines deutschen Musterdorfes verbarg sich ein Reich des Schreckens. Die "Colognia Dignidad" in Chile, rund 350 Kilometer südlich der Hauptstadt Santiago gelegen, war längst nicht nur das strahlende Abbild einer angeblich vorbildlichen Siedlung. Ganz im Gegenteil: Hinter Stacheldraht, in finsteren Kellern geschahen unfassbare Verbrechen von Kindesmissbrauch bis sogar Mord. In einer neuen, umfangreich recherchierten Dokumentation zeigen sich die allerschlimmsten Verfehlungen aus der Zeit von 1961 bis hinein in die 2000er-Jahre. An den Montagen, 16. und 23. März, jeweils um 22.45 Uhr, zeigt das Erste den sehenswerten Beitrag.

Zu sehen sind zunächst blonde deutsche Kinder. Sie beißen strahlend jeweils in selbstgebackenes Brot. Die Bilder wirken wohlwollend und vertraut. Kein Wunder, sie wurden aufgenommen von den eigenen Kameramännern innerhalb der Kolonie. Die Regisseurin Annette Baumeister stand zunächst vor der Mammutaufgabe, hunderte Stunden an originalem Bild- und Tonmaterial auszuwerten. Sie sagt: "Bewusst wird in der Serie das Filmmaterial roh, so wie es gedreht wurde, gelassen: Unscharf, verwackelt, unsicher und brüchig - so wie das Leben in der Kolonie auch war."

Nur scheinbar ein Paradies

Anfang der 1960er-Jahre waren 300 Deutsche nach Chile gezogen. Am Fuße der Anden, irgendwo im Nichts, bauten sie ein Dorf auf. Es entstand angeblich ein Paradies. Die einheimischen Chilenen in der unmittelbaren Nachbarschaft sagten schnell: "Wenn Deutsche etwas wollen, dann schaffen sie es." Was sie jedoch nicht wussten: Die Siedler, die zunächst aus dem kleinen Örtchen Gartow an der Elbe und später aus Heide bei Siegburg kamen, verschrieben ihr Leben nur zum Schein an Gott und die Armen. Ein Vorbild an Solidarität und Aufrichtigkeit war ihr Anführer Paul Schäfer nicht.

Gegen Schäfer, der mit der Private Social Mission ein Erziehungsheim für Kinder von Gruppenmitgliedern gründete, liefen unmittelbar vor dessen Flucht aus Deutschland Anfang der 1960-er Ermittlungen aufgrund von Anzeigen wegen Vergewaltigung zweier Jungen. Diese kriminielle Energie bekamen alsbald auch Schäfers Anhänger in Chile zu spüren. Nachdem sie ein deutsches Musterdorf mit Werkstätten, Landwirtschaft, Viehzucht und einem Krankenhaus für die notleidende chilenische Bevölkerung aufgebaut hatten, zeigte Schäfer sein wahres Gesicht. Er zerstörte die Familien und ließ seine Anhänger bis tief in die Nacht arbeiten und beten. Jeder Widerstand wurde im Keim erstickt. Abgeschottet von der Außenwelt und unangreifbar in seiner Macht, missbrauchte Schäfer die Jungen der Kolonie, machte sie gefügig und abhängig.

Täter oder Opfer?

Aus der Colonia Dignidad wurde schließlich eine Sekte. Die sich später jedoch der chilenischen Öffentlichkeit öffnete. Nach dem Militärputsch im September 1973 diente Schäfer sich auch den neuen Machthabern an: Geheimpolizeichef Manuel Contreras und Diktator Augusto Pinochet gingen fortan in der Kolonie ein und aus. Gleichzeitig wurden die Gegner des chilenischen Terrorregimes in den Kellern der Kolonie gefoltert und sogar getötet. Kein Kolonist wollte von diesen Gräueltaten unmittelbar etwas mitbekommen haben. Angeblich wären sie zu sehr mit dem eigenen Überleben beschäftigt gewesen, wie Zeitzeugen im Film berichten.

Doch stimmt das wirklich? In Baumeisters Film, in dem einige der ehemaligen Kolonisten erstmals vor der Kamera sprechen, bleibt weitestgehend unklar, ob sie sogar selbst Täter gewesen waren. Hinterbliebene der Kolonie, die sich heute Villa Baviera nennt, begegneten der Regisseurin zunächst skeptisch. Baumeister beschreibt: "Binnen weniger Stunden sprach sich unsere Ankunft unter den 80 Bewohnern der Villa Baviera herum. Während sich uns die junge Generation offen, bereitwillig und hilfsbereit zuwandte, standen uns viele ältere Bewohner misstrauisch oder gar feindselig gegenüber. Schon am ersten Abend im Gasthaus der Villa Baviera wurde ich in Diskussionen mit den ehemaligen Sektenmitgliedern verwickelt. Mir wurde klar, wie schwierig in vielen Fällen die Einteilung in Täter und Opfer ist."

Auch fiktional wurde das Geschehen aktuell aufgearbeitet: Ende des vergangenen Jahres hob der Streaminganbieter Joyn unter dem Titel "Dignity" die deutsch-chilenische Thriller-Serie über die christliche Sekte Colonia Dignidad ins Portfolio. Mit dabei waren unter anderem Marcel Rodriguez, Devid Striesow, Götz Otto und Jennifer Ulrich in den Hauptrollen.