Fernsehfilmchef im Interview: Fällt der "Tatort" Corona zum Opfer?

Wie lange reichen die vor Corona produzierten Filme und Serienfolgen, bevor es nur noch triste Wiederholungen zu sehen gibt? WDR-Fernsehspielchef Alexander Bickel über stillstehende Kameras, Risiko-Drehs und die Frage: Wie viele neue "Tatorte" liegen aktuell im Schrank?

Seit Mitte März befindet sich Deutschland im Lockdown. Nur langsam wird dieser nun wieder gelockert. Nicht nur Schulen und Geschäfte waren geschlossen, auch Fließbänder, Produktionshallen und Filmkameras standen still. Letzteres könnte sich - je nach Länge der Pause - so auswirken, dass es demnächst vorwiegend Wiederholungen im Fernsehen zu sehen gibt - weil einfach nichts Neues gedreht werden konnte. Doch wie lange reicht der Vorrat an Neuware, zum Beispiel bei Deutschlands beliebtestem Fiction-Produkt, dem "Tatort"? Alexander Bickel ist seit 2019 Fernsehfilmchef des WDR, der größten Sendeanstalt des ARD-Netzwerkes. Regelmäßig sitzt er in Gremien, die sich mit Auswirkungen und Management der Corona-Pandemie im Ersten Deutschen Fernsehen beschäftigen. Im Interview erzählt Bickel, wie in Zeiten von Corona doch wieder Filme entstehen könnten, warum ein Corona-"Tatort" vielleicht doch keine so gute Idee ist und wann die ARD-Regale mit fertigen Filmen und Serien leergeschaut sein werden.

teleschau: Herr Bickel, wird momentan im Auftrag der ARD gedreht?

Alexander Bickel: Zumindest im Auftrag des WDR wurde in den vergangenen Wochen nichts gedreht - bei "Sturm der Liebe" gehen die Dreharbeiten jetzt wieder los, unter strengen Vorkehrungen für die Gesundheit der Beteiligten. Wir haben im WDR drei "Tatort"-Drehs für unsere Reihen in Dortmund, Münster und Köln verschieben müssen. Ein "Tatort" befindet sich in der Postproduktion, mit kleinen Verzögerungen. Beim "Fernsehfilm am Mittwoch" sieht es ähnlich aus. Da haben wir aktuell drei Produktionen geschoben und anderswo Verzögerungen in der Postproduktion. Außerdem stehen bei zwei Kino-Koproduktionen des WDR derzeit die Kameras still.

teleschau: Gibt es schon ein Szenario, wann und wie es weitergehen könnte?

Bickel: Es gibt keinen Masterplan, weil Filme zu drehen ein extrem komplexes Geschäft ist - vor allem logistisch. Erst mal muss natürlich die Sicherheit aller Menschen am Set gewährleistet sein. Alle Abläufe müssen überdacht und eventuell geändert werden. Dazu kommt das Problem der Verfügbarkeit. Wenn Dreharbeiten verschoben werden, hängen viele Schauspieler oder Mitarbeiter hinter den Kulissen schon wieder in anderen Jobs drin. Man kann Menschen, die einen Film drehen, nicht so leicht durch andere ersetzen, wie es in anderen Branchen möglich ist - abgesehen davon, dass wir das auch gar nicht wollen. Das gilt natürlich vor allem für Schauspieler, aber auch für andere Kreative. Es wird auf jeden Fall ein Kraftakt, den Betrieb wieder aufzunehmen und ins Rollen zu bringen.

"Die größten Probleme sehe ich an kleinen Sets"

teleschau: Wer entscheidet darüber, ob Dreharbeiten unterbrochen werden - und wann sie wieder aufgenommen werden?

Bickel: Das entscheiden die Produzenten der Filme. Sie müssen sich natürlich an Anweisungen der Ordnungsbehörden halten. In der Regel werden Drehverbote lokal ausgesprochen. Die Stadt Köln beispielsweise hat Dreharbeiten im öffentlichen Raum untersagt. Das finden viele Produzenten sogar gut, dann ist die Sache nämlich klar geregelt. Bei Schadensersatz-Ansprüchen befinden sie sich so in einer besseren Position: Sie dürfen nicht drehen, weil es verboten ist. Was wir derzeit auch bei den anderen Pandemie-Maßnahmen erleben, gilt auch für Dreharbeiten. Die Regelungen sind nicht überall genau gleich. Deshalb können hier und da Dreharbeiten unter bestimmten Voraussetzungen stattfinden: in großen, geschlossenen, privaten Räumen - meist sind das Studios. So etwas ist auch nicht so leicht zu verbieten. Da müssen lediglich die Richtlinien des Arbeitsschutzes eingehalten werden, die allerdings in Bezug auf Corona ziemlich streng sind.

teleschau: Wie werden Dreharbeiten während der Pandemie aussehen? Sind ab sofort intimere Szenen und Küsse vor der Kamera verboten?

Bickel: Was solche praktischen Leitfäden für Drehs betrifft, ist die Branche noch mitten in der Neuorientierung. Die ARD steht mit den Produzentenverbänden im ständigen Austausch. Es gibt verschiedene Modelle. Eines ist, dass am Set sehr viel getestet werden wird. Es finden in der weiten Welt der ARD momentan viele Meetings statt, die sich auch mit solchen Fragen sehr intensiv beschäftigen.

teleschau: Wo sehen Sie die größten Probleme bei Corona-Drehs?

Bickel: Die größten Probleme sehe ich an kleinen Sets - enge Räume oder Treppenhäuser zum Beispiel. Wie soll man da mit all den Leuten eines Filmteams plus Sicherheitsabstand reinpassen? Stellen Sie sich eine kleine Zweizimmer-Wohnung und ein Team von 20 Leuten vor. Da wird es schon eng. Ich kann mir vorstellen, dass Szenen, die während der Pandemie gedreht werden, ein bisschen anders aussehen, als sie sonst ausgesehen hätten. Doch es darf nicht absurd werden. Filme versuchen, eine Art von Wirklichkeit herzustellen - und in der befinden sich vertraute Menschen eben nicht immer auf Abstand. Ein anderes, praktisches Problem ist, dass ein Großteil der Dreharbeiten aus Warten besteht. Auch da braucht es klare Regeln, wie man sich in dieser Zeit eben nicht zu nahe kommt.

Der Herbst ist in Sachen Filmpremieren auf jeden Fall "safe"

teleschau: Werden Sie die Pandemie in Filmen thematisieren? Wird es einen Corona-"Tatort" geben, bei dem die Kommissare auf Abstand ermitteln?

Bickel: Ich bin mir sicher, dass die Pandemie thematisch in die deutsche Fiction einfließen wird. Vielleicht auch bei uns, aber dazu kann ich derzeit noch nichts sagen. Man muss allerdings bedenken, dass Filme wie auch der "Tatort" manchmal ein Jahr vor der Ausstrahlung gedreht werden. Wenn man noch die Drehbuchentwicklung dazurechnet, können zwei oder mehr Jahre vergehen, von der ersten Idee bis zum fertigen Film. Irgendwann könnte es ein wenig skurril wirken, wenn die Ermittler mit Sicherheitsabstand unterwegs sind, die Pandemie zur Ausstrahlung aber lange hinter uns liegt.

teleschau: Wie lange kann man den Betrieb noch anhalten, ehe man Nachschubprobleme mit frischen Filmen, zum Beispiel dem "Tatort" bekommt?

Bickel: Auch wenn manche "Tatorte" eine lange Entstehungsgeschichte haben, am Ende ist es oft ein Just-in-time-Geschäft. Dort passiert es selten, dass fertige Filme monatelang beim Sender herumliegen. Schlimm für die Branche ist, dass diese Krise - bis jetzt - den Frühling und Sommer betrifft. Das ist jene Zeit, in der ein Großteil der Dreharbeiten stattfindet. Ich denke trotzdem, dass wir mit unseren Premieren, seien es nun "Tatorte" oder andere Filme, im Jahr 2020 noch gut über die Runden kommen. Der Herbst ist in Sachen Filmpremieren auf jeden Fall "safe".

teleschau: Sollte im Sommer kaum gedreht werden können, ereilt uns die "Tatort"-Krise dann aber 2021?

Bickel: Eine explizite "Tatort"-Krise sehe ich nicht. Dazu ist diese Reihe zu breit und eben föderal aufgestellt. Insgesamt kann ich mir aber vorstellen, dass wir 2021 weniger "Tatorte" und andere Fiction-Premieren im Ersten sehen können, als es ohne Corona der Fall gewesen wäre. Die Ausfallzeiten, in denen nicht gearbeitet werden konnte, werden doch umfangreich sein.

"In aller Freundschaft" dreht wieder

teleschau: Echte Nachschub-Probleme müsste es bei zeitlich kurz getakteten Serien und vor allen bei den Daily Soaps geben. Müssen sich die Fans da auf Durststrecken einstellen? Immerhin gibt es die "Lindenstraße" nicht mehr ...

Bickel: Ja, die "Lindenstraße" hat es gerade noch vor Corona ins Ziel geschafft. Bei dem kurzen Vorlauf, mit dem dort aktuelle Themen umgesetzt wurden, hätte es wahrscheinlich Nachschub-Probleme gegeben. Das Produktionsende der "Lindenstraße" war aber eben schon Ende letzten Jahres. Beim "Sturm der Liebe" ist es so, dass jetzt wieder mit dem Drehen angefangen wurde. Damit die Fans baldmöglichst wieder neue Folgen zu sehen bekommen. Ich habe auch gehört, dass "Dahoam is Dahoam", die bayerische Daily, und "In aller Freundschaft" den Betrieb wieder aufgenommen haben sollen.

teleschau: Auch vom NDR-Produkt "Rote Rosen" heißt es, dass ab 4. Mai wieder gedreht wird. Gelten für die Soaps Ausnahme-Regelungen?

Bickel: Das sind sicher Ausnahmen im Geschäft, die deshalb gemacht werden, weil diese Serien unter gut kontrollierbaren Studio-Bedingungen realisiert werden können. Doch auch da wird unter umfangreichen Corona-Schutzmaßnahmen gearbeitet.

teleschau: Wie will das Erste das gigantische Sommerloch füllen, welches durch die Absage von Fußball-EM und Olympia entsteht? Die Leute brauchen doch gerade in diesem Sommer ein wenig Ablenkung ...

Bickel: Das Sportloch zu füllen, ist eine Aufgabe, die so groß ist, dass sie sicher nicht von der Fiction alleine aufgefangen werden kann. Wenn wir jetzt drehen könnten, hätte man mehr Erstsendungen vom Herbst vorziehen können - aber diese Filme und Serien würden ja dann auch im Herbst fehlen. Trotzdem denkt die ARD über Konzepte nach, das Sommerloch attraktiv zu füllen. Das ist auf jeden Fall ein großes Thema bei uns. Ich kann noch nichts verraten, aber es wird mit Sicherheit die ein oder andere Überraschung geben, die dazu führt, dass man das Sommerloch im Ersten als nicht ganz so schlimm empfinden wird, wie von manchen befürchtet.