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Die EZB riskiert die Monsterinflation

Eigentlich müsste sich Kjell Nyborg über den Euro und seine Quelle, die Europäische Zentralbank (EZB), keine Gedanken machen. Nyborg ist Norweger, hat in Chicago und Stanford Mathematik und Finanzen studiert und forscht heute als Professor für Unternehmensfinanzierung an der Universität Zürich. Statt des Euro haben Krone, Dollar und Franken sein Leben begleitet.

Dass der Euro ihm dennoch Sorgen bereitet, ist die Spätfolge eines Forschungsaufenthalts, für den sich Nyborg 2001 vier Monate bei der EZB in Frankfurt einquartiert hatte. Er untersuchte damals die Auktionsmethoden, mit denen die EZB Zentralbankgeld leihweise unter den Banken versteigerte. Weil die Banken der EZB im Gegenzug Sicherheiten stellen müssen, beschäftigte sich Nyborg auch mit den Regeln für diese Vermögenswerte. Dabei fielen ihm Ungereimtheiten auf. Er las sich in das komplizierte Rahmenwerk für Kreditsicherheiten ein, bohrte tiefer und tiefer – und „als ich verstand, was da vor sich geht“, sagt Nyborg, „war ich geschockt“.

Denn viele der Wertpapiere, die die EZB als sicher einschätzt, sind es in Wahrheit nicht; die EZB gibt sich mit fragwürdigen Zahlungsversprechen zufrieden. Mehr noch: Als die Euro-Krise ausbrach, schraubte die Notenbank die Anforderungen an Sicherheiten für Geldleihgeschäfte weiter herunter, um die Banken liquide zu halten. Nyborg erkannte, welche Risiken mit dieser Politik der qualitativen Lockerung verbunden sind. Also entschloss er sich, seine Erkenntnisse mit der Öffentlichkeit zu teilen. Zunächst veröffentlichte er akademische Artikel in wissenschaftlichen Fachzeitschriften. Dann beschloss er, sich mit einem Buch an die breite Öffentlichkeit zu wenden, um sie über „Das offene Geheimnis der Zentralbanken“ zu informieren. Das Buch ist eine Anklage gegen die Euro-Notenbanker. Der Vorwurf: Sie lassen sich vor den Karren von Banken und Staaten spannen, pumpen Geld gegen Schrott in die Welt, betreiben faktische Insolvenzverschleppung und verschleiern das alles trickreich – und zum Nachteil der Steuerzahler.

Was die Welt im Innersten zusammenhält

Was steckt hinter Nyborgs Vorwürfen? Im Kern ist es ganz einfach: Jeder Kaufmann weiß, dass Kredite im Ernstfall nur so viel wert sind wie das Vermögen, das der Schuldner im Gegenzug verpfändet. Von diesem Grundsatz haben sich die Zentralbanken weitgehend verabschiedet. Sie bringen mit Leihgeschäften in Umlauf, was die kapitalistische Welt im Innersten zusammenhält: Geld, das die Notenbanker aus dem Nichts schöpfen und gegen Sicherheiten an die Geschäftsbanken verleihen. Die Banken benötigen das Geld der Zentralbank, um Mindestreserven für die Einlagen ihrer Kunden zu bilden, um deren Bargeldwünsche zu befriedigen – und um untereinander Zahlungen abzuwickeln.

Platzt ein Geldleihgeschäft, etwa weil eine Bank ins Straucheln gerät, muss sich die Zentralbank an der hinterlegten Sicherheit schadlos halten. Das aber kann sie nur, wenn die Sicherheit wertstabil ist und die Notenbank sie nicht zu hoch beliehen hat. Andernfalls entstehen der Zentralbank Verluste. Im Fall der EZB werden sie auf die nationalen Zentralbanken des Euro-Systems verteilt, maßgeblich dafür sind die Anteile der einzelnen nationalen Zentralbanken am voll eingezahlten Kapital der EZB. Auf die Bundesbank entfällt derzeit ein Anteil von 25,6 Prozent.

Anders gesagt: Die seriöse Besicherung von Geldleihgeschäften ist die Basis für ein gesundes Geld- und Finanzsystem. Umgekehrt gilt: „Je schlechter die Sicherheiten und je geringer der Bewertungsabschlag, desto schwächer ist die auf ihnen basierende Währung“, so Nyborg. Auch wenn der Norweger seine Kritik an der Geldpolitik der EZB mit der für einen Wissenschaftler üblichen Kühle und Sachlichkeit erklärt, so spürt man doch beim persönlichen Gespräch in seinem Büro in der Zürcher Plattenstraße, wie sehr ihn die laxe Besicherungspolitik der EZB umtreibt.


Indirekter Bail-out für marode Banken

Zwar hat die EZB alle Wertpapiere mit einem offiziellen Rating, die sie als Sicherheiten akzeptiert, in einer öffentlich zugänglichen Liste zusammengestellt. Die Banken können Papiere vorschlagen, die sie zur Beleihung einreichen wollen; die EZB kann sie akzeptieren oder nicht. Die Liste, die 30.000 bis 40.000 Papiere umfasst, wird täglich aktualisiert. Und doch befinden sich derzeit Anleihen der spanischen Bank Banco Popular darauf, die jüngst für einen Euro an den Konkurrenten Santander verscherbelt wurde. Auch Anleihen der notleidenden italienischen Banken Banca Popolare di Vicenza, Veneto Banca und Banca Monte dei Paschi di Siena nimmt die EZB als Sicherheiten entgegen.

Hinzu kommt, dass die Mehrheit der gelisteten Papiere gar nicht gehandelt wird. „Ohne Marktpreise aber gibt es kein objektives Maß für den fairen Wert“, sagt Nyborg. Daher greifen die Notenbanken des Euro-Systems auf eigene Bewertungsmodelle zurück, mit denen sie den Beleihungswert der Papiere abschätzen. Sie orientieren sich dabei an Wertpapieren mit ähnlichen Charakteristika, die am Markt gehandelt werden. Heißt es. Doch wie die Parameter der Modelle spezifiert sind, weiß außerhalb der Notenbank keiner, sagt Nyborg. Es ist ein System, das anfällig ist für politische Einflussnahme.

Das gilt auch für eine zweite Liste von Sicherheiten, die die EZB führt. Diese enthält, nun ja: „Wertpapiere“, die noch nicht einmal das Rating einer Agentur aufweisen. Bonität Nebensache? Jedenfalls verlassen sich die Notenbanken auf hauseigene Einschätzungen, über die die Öffentlichkeit keine Kenntnis hat. Und sie enthält nicht marktfähige Forderungen der Banken, etwa wackelige Konsumentendarlehen. „Mehr als die Hälfte der Papiere, die die Banken als Sicherheiten für Leihgeschäfte bei der EZB einreichen, haben keine Marktpreise“, sagt Nyborg. Und wo der Markt fehlt, blüht der politische Sumpf.

Ein Beispiel dafür sind die sogenannten Dicke-Bertha-Geschäfte der EZB, mit denen die Währungshüter den Geschäftsbanken auf dem Höhepunkt der Euro-Krise 2011 und 2012 unbegrenzte dreijährige Geldleihgeschäfte anboten. Insgesamt liehen sich die Kreditinstitute damals rund eine Billion Euro von der EZB. Um den eigenen maroden Banken Zugang zu einem möglichst großen Teil der Geldschwemme aus Frankfurt zu verschaffen, stattete die italienische Regierung zahlreiche dubiose Bankanleihen mit staatlichen Garantien aus. Zugleich nahm die EZB mehr als 10.000 unbesicherte und auf unregulierten Märkten gehandelte Bankanleihen in ihre Liste notenbankfähiger Sicherheiten auf. „Das war ein indirekter Bail-out für marode Banken“, urteilt Nyborg.

Eine wichtige Rolle im Besicherungsgeschäft der EZB spielen die Ratingagenturen. Neben den drei großen Agenturen Moody’s, Fitch und Standard and Poor’s kommt der kleineren kanadischen Agentur DBRS eine besondere Rolle zu. Die EZB hatte die Bewertungen der Agentur, die für vergleichsweise großzügige Beurteilungen von Schuldnern bekannt ist, schon vor der Euro-Krise in ihre Politik einbezogen. Da sich die Notenbanker bei der Akzeptanz von Staatsanleihen als Kollaterale nur am jeweils besten Rating orientieren, konnten sie mit Verweis auf die günstigen Urteile von DBRS für Italien, Spanien und Portugal hohe Beleihungswerte für deren Staatsanleihen ansetzen. Auf diese Weise konnten sich die Banken Nyborgs Berechnungen zufolge zusätzlich rund 200 Milliarden Euro mehr Geld bei der EZB borgen.

Fragwürdige Haarschnitte

Ebenso fragwürdig wie die Sicherheiten, gegen die die EZB Geld verleiht, sind die Abschläge (Haircuts), die sie dabei in Rechnung stellt. Die Abschläge sollen die Wertminderungsrisiken widerspiegeln und die EZB vor Verlusten schützen. Dabei berücksichtigen die Euro-Hüter drei Faktoren: die Art des Wertpapiers, die Laufzeit und das Rating. Die Höhe des Abschlags bestimmt die EZB selbst. So setzte sie in der Euro-Krise für italienische und spanische Staatsanleihen die gleichen Bewertungsabschläge an wie für deutsche Staatsanleihen – obwohl das Ausfallrisiko für erstgenannte Anleihen schon damals deutlich höher war als für Bundespapiere. Dazu kommt, dass die Experten der EZB die Haircuts nur alle drei bis vier Jahre aktualisieren. „Die niedrigen Bewertungsabschläge haben eine exzessive Staatsverschuldung zu günstigen Konditionen möglich gemacht“, sagt Nyborg.

Mehr Staatsschulden sind auch die Folge des Anleihekaufprogramms, das die Euro-Hüter im März 2015 gestartet haben. Bisher haben sie dabei Papiere im Wert von mehr als zwei Billionen Euro gekauft, neben Staatsanleihen auch Unternehmensanleihen und Pfandbriefe. Das hat die Bilanzsumme der EZB auf 4,2 Billionen Euro anschwellen lassen (siehe Grafik oben). Die Käufe der Währungshüter haben die Kurse der Anleihen nach oben und die Effektivzinsen nach unten gedrückt. Für die Regierungen entstanden Anreize, noch mehr Schulden zu machen.


Großes Verlustpotenzial

Ebenso wie die Geldleihgeschäfte erhöhen diese Anleihekäufe die Risiken in der EZB-Bilanz. Denn sollten Regierungen und Unternehmen nicht Willens oder in der Lage sein, ihre Verbindlichkeiten zu tilgen, müsste die EZB die Papiere abschreiben. Die anfallenden Verluste würden auf die nationalen Notenbanken entsprechend deren Anteil am EZB-Kapital verteilt. Auf die Bundesbank entfiele, wie gesagt, der Löwenanteil (siehe Grafik). Da Verluste aus dem Programm zum Ankauf von Staatsanleihen – anders als bei den übrigen Anleihekäufen – nur zu 20 Prozent auf die nationalen Zentralbanken sozialisiert werden, ergibt sich für die Bundesbank aus dem Kaufprogramm der EZB ein maximales Verlustpotenzial von rund 196 Milliarden Euro. Genug, um das Eigenkapital und die Rücklagen der Notenbank auszulöschen.

Die Bundesbank müsste die verbleibenden Verluste durch die Gewinne in Folgejahren abtragen – und Steuerzahler müssten auf Gewinnüberweisungen aus Frankfurt für den Bundeshaushalt verzichten. Der Euro-Kritiker Markus Kerber von der Technischen Universität Berlin hat daher Ende Mai einen Antrag auf einstweilige Anordnung beim Bundesverfassungsgericht gestellt, um der Bundesbank die Beteiligung an den Anleihekäufen zu untersagen. Die Gefahr milliardenschwerer Verluste auf Rechnung der Bürger ohne Placet des Bundestages sei mit dem Demokratieprinzip der Verfassung unvereinbar, so Kerber.

Land gegen Kredite

Ob der Verlustsozialisierung durch die EZB mit rechtlichen Mitteln beizukommen ist, bleibt angesichts der Erfahrungen mit den jüngsten Verfassungsklagen gegen die EZB-Politik fraglich. Ökonom Nyborg schlägt daher einen anderen Weg vor. Seine Idee: Die EZB soll nur noch Staatsanleihen als Sicherheit akzeptieren, die durch Land und Grundvermögen des Schuldnerlandes oder durch dessen Steuereinnahmen gedeckt sind. Dabei könnten die Steuern auf ein Treuhandkonto eingezahlt werden, das im Falle von Zahlungsschwierigkeiten der Schuldnerregierung an die Gläubiger fällt. Darüber hinaus schlägt Nyborg vor, die EZB solle ihre Bewertungsabschläge für Staatsanleihen an der Höhe der Staatsverschuldung orientieren.

Das hätte mehrere Vorteile. Erstens ließe sich der Wert der Kollaterale dank der Besicherung mit realem Vermögen einfacher bestimmen und böte der EZB eine wertstabile Grundlage für ihre Geldleihgeschäfte. Zweitens reduzierte sich der Anreiz für die Politik, noch mehr Schulden zu machen. Denn diese verringerten wegen der höheren Haircuts die Attraktivität der Staatsanleihen für die Banken. Zudem setzten die Regierungen mit jedem Euro Schulden einen Teil ihres Staatsgebiets aufs Spiel.

Nyborg sieht seinen Vorschlag als eine Alternative zur Fiskalunion, in der eine gemeinsame Regierung mit einem gemeinsamen Finanzminister den finanzpolitischen Kurs vorgibt: „In einer heterogenen Währungsunion wie der Euro-Zone müssen die Regierungen auf einen Teil ihrer Souveränität verzichten, wenn die Staatsschulden nicht aus dem Ruder laufen sollen.“ In einer Fiskalunion müssten die Staaten permanent auf ihre haushaltspolitische Souveränität verzichten. Bei der Besicherung von Staatsanleihen mit Grundvermögen wäre dies nur bei einer Insolvenz der Fall und ließe sich durch verantwortungsbewusstes Wirtschaften vermeiden.

Verschulden sich die Regierungen hingegen wie bisher und pumpt die EZB noch mehr Geld in die Wirtschaft, könne es mit der Währungsunion ein böses Ende nehmen, fürchtet Nyborg: „Entweder kommt es zu einem Schuldenschnitt, oder die Euro-Zone erlebt eine Monsterinflation wie in den Siebzigerjahren.“ In beiden Fällen wäre wohl ein währungspolitischer Neustart nötig. Und Nyborgs Vorschläge könnten als Blaupause für ein gesundes Währungssystem und solidere Staatsfinanzen dienen.