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Disneys „Die Schöne und das Biest“ ist viel weniger skandalös als die Buchvorlage

„Die Schöne und das Biest“ von Gabrielle-Suzanne Barbot de Villeneuve, hier in einer neuen Ausgabe mit Illustrationen von MinaLima und herausgegeben von HarperCollins.
„Die Schöne und das Biest“ von Gabrielle-Suzanne Barbot de Villeneuve, hier in einer neuen Ausgabe mit Illustrationen von MinaLima und herausgegeben von HarperCollins.

Madame Pottine singt, dass die Geschichte von der Schönen und dem Biest ein altes Lied ist. Allerdings ist sie nicht so alt, wie Fans vielleicht dachten. Während es seit Hunderten von Jahren ähnliche Volksmärchen gab, stammt die Geschichte, die die meisten Leser kennen, von der französischen Autorin Gabrielle-Suzanne Barbot de Villeneuve und wurde 1740 erstmals veröffentlicht. „La Belle et la Bête” war die Vorlage sowohl für Disneys Zeichentrickfilm von 1991 als auch für das Remake von 2017, das die Autorin ehrt, indem Belles Dorf den Namen „Villeneuve“ trägt.

Natürlich hat sich Disney – so wie immer – einige Freiheiten genommen, die originale Geschichte etwas abzuändern – und das ist auch gut so, denn Villeneuves Variante geht einige ziemlich vertrackte Wege. Ich habe mir die originale Geschichte einmal näher angesehen (im Besonderen die wundervoll neu illustrierte Ausgabe von MinaLima), um herauszufinden, welche Teile von „Die Schöne und das Biest“ erhalten geblieben sind und welche Details (inklusive einiger Disney-untypischer Nebenhandlungen rund um Inzest und Verführung) in den vergangenen zweieinhalb Jahrhunderten fallengelassen wurden.

Der Zeichentrickfilm von Disney behält alle wesentlichen Elemente der Geschichte: Ein tugendhaftes Dorfmädchen (die Schöne, Disney übersetzte den Namen wortwörtlich mit „Belle“) willigt ein, im Gegenzug für die Freilassung ihres eingesperrten Vaters als Gefangene im Schloss des mysteriösen Biests zu leben. Mit der Zeit fürchtet sie sich nicht mehr vor dem Aussehen des Biests und sie verlieben sich. Dadurch wird der Bann gebrochen und das Biest wird wieder in sein ursprüngliches Äußeres zurückverwandelt – ein menschlicher Prinz. Der neue Film fügt einige zusätzliche Elemente aus dem Buch hinzu – zum Beispiel setzt Belle die Handlung in Gang, indem sie ihren Vater bittet, ihr eine Rose zu bringen und er verärgert das Biest, weil er versucht, diese aus dem Schlossgarten zu pflücken.

Während die Verwandlung der Schlossangestellten des Prinzen in Haushaltsgegenstände eine Idee Disneys war, ist das Schloss in der originalen Geschichte auf seine ganz eigene Art und Weise verzaubert. Als die Schöne einzieht, werden eine Truppe abgerichteter Affen und ein Chor sprechender Papageien zu ihren Bediensteten. Essen, Kleidung und Schmuck erhält sie auf magische Weise. Und sie darf Bücher aus der Schlossbücherei lesen (eine Idee, die Disney ganz offensichtlich über alles liebte).

Und das Beste von allem: Ein Raum im Palast hat sechs Fenster, die es der Schönen ermöglichen, bei verschiedensten Geschehnissen weltweit in der ersten Reihe sitzen zu können – ein lustiges Theaterstück, eine Oper, eine Party der Oberschicht, sogar eine Revolution – wie eine opulente Version des Fernsehprogramms aus dem 18. Jahrhundert.

Eine Illustration aus „Die Schöne und das Biest“. (Bild: MinaLima c/o HarperCollins)
Eine Illustration aus „Die Schöne und das Biest“. (Bild: MinaLima c/o HarperCollins)

Im Allgemeinen kann man sagen, dass die Gefangenschaft der Schönen recht angenehm ist. Selbstverständlich darf sie nicht nach Hause, aber im Buch hat sie fünf eifersüchtige Schwestern, die sie hassen, deshalb scheint das keine allzu große Entbehrung zu sein. Was das Biest betrifft (das als „schreckliche Kreatur“ mit „einem Rüssel ähnlich dem eines Elefanten“ beschrieben wird), zeigt es sich nur einmal am Tag und bittet die Schöne, es zu heiraten, was sie ablehnt. Allerdings – und das ist einer der Hauptunterschiede zur Disney-Version – sieht die Schöne das Biest in seiner Gestalt als schönen Prinzen jede Nacht in ihren Träumen. Er erklärt nicht, dass er eigentlich das Biest ist und die Schöne zählt trotz seiner zahlreichen kryptischen Äußerungen darüber, dass Aussehen nicht alles ist, nicht eins und eins zusammen. Sie verliebt sich in den Prinzen und schlägt den Heiratsantrag des Biestes – ironischerweise – hauptsächlich deshalb aus, weil sie ihr Herz an den Prinzen aus ihren Träumen verloren hat.

Natürlich willigt die Schöne letztendlich doch ein, allerdings hat dies mehr mit Rationalität als mit wahrer Liebe zu tun. Das Biest erlaubt ihr einen kurzen Besuch bei ihrer Familie. Dabei drängt sie ihr Vater – ein bankrotter Händler, der Dank der Geschenke des Biests wieder reich ist – dazu, seinen Antrag in Betracht zu ziehen. „Es ist sehr viel besser, einen liebenswerten Ehemann zu haben als einen, dessen einziger Vorzug sein Aussehen ist“, erklärt der Vater seiner Tochter. „Wie viele Mädchen lassen sich verleiten, reiche Bestien zu heiraten, die sehr viel grausamer sind als das Biest, das nur so aussieht, aber nicht so fühlt und handelt?“ Mit anderen Worten: Ein Mädchen könnte es schlechter haben!

Als sie zum Schloss zurückkehrt, findet die Schöne das kranke Biest und ihre Sorge um ihn lässt sie erkennen, dass sie Gefühle für ihn hat. Sie sagt „ja“ zu seinem Heiratsantrag, der Himmel klart magisch auf und „zwanzigtausend Raketen steigen für drei Stunden ununterbrochen“ auf und die Schöne macht sich bereit, sich von ihrem Prinzen zu verabschieden. Aber der Prinz verschwindet aus ihren Träumen und als sie am nächsten Morgen aufwacht, liegt das verwandelte Biest an ihrer Seite.

Schauen Sie sich eine Szene aus dem neuen Film „Die Schöne und das Biest“ an:

Und da endet die Disney-Version. Aber das ist nur das halbe Buch. In den verbleibenden vier Kapiteln führt Villeneuve die extrem verworrene Hintergrundgeschichte der Verwandlung des Biests aus. Wie sich herausstellt, wurde der Prinz im Buch nicht als Bestrafung für seine Sünden verflucht. Vielmehr wurde der Bann von einer bösen Fee verhängt, die den Prinzen als Jungen gekidnappt und dann versucht hatte, ihn als Heranwachsenden zu verführen. Als er ihre Annäherungsversuche ablehnte, verwandelte sie ihn in das Biest. Allerdings hatte eine gute Fee Mitleid mit dem Prinzen und änderte den Fluch dahingehend ab, dass wahre Liebe ihn brechen könne. Die gute Fee arrangierte auch heimlich, dass die Schöne und das Biest aufeinandertreffen – es sah nach Zufall aus, war aber eine jahrelange Manipulation ihrer Familien. Dazu gehörte zum Beispiel, dass die gute Fee dem Händler die Schöne als Adoptivtochter brachte, um ihre wahre Herkunft zu verschleiern. Denn eigentlich war sie die Tochter eines Königs und einer Fee.

Das führt uns zur schockierendsten Wendung im Buch: Die Schöne und das Biest sind Cousine und Cousin ersten Grades. Es kommt heraus, dass die Schöne die heimliche Tochter des Königs von Fortunate Island ist. Dieser wiederum ist der Bruder der Königin, die die verwitwete Mutter des Prinzen ist. Berücksichtigt man die Konventionen des 18. Jahrhunderts in Europa, waren die Schöne und der Prinz somit das perfekte Paar: Sie kommen beide aus aristokratischen Familien und wenn sie heiraten, bleiben ihre jeweiligen Königreiche in der Familie. Nach den Auffassungen der modernen Zeit ist es jedoch sehr viel akzeptabler, dass die Schöne sich in einen haarigen Elefanten verliebt als zu akzeptieren, dass sie und der Prinz eng verwandt sind.

Eine Illustration aus „Die Schöne und das Biest“. (Bild: MinaLima c/o HarperCollins)
Eine Illustration aus „Die Schöne und das Biest“. (Bild: MinaLima c/o HarperCollins)

Es gibt noch ein weiteres wichtiges Detail, das Disney veränderte. Es scheint zwar unwichtig, macht aber einen wesentlichen Unterschied aus. Im Buch darf der Prinz der Schönen nicht sein wahres Ich zeigen. Unter Androhung der Todesstrafe von der bösen Fee muss er vorgeben, dass er nicht nur hässlich, sondern auch „ungehobelt und dumm“ ist und darf nicht versuchen, seine Gefangene mit Worten oder Gesten der Liebe für sich zu gewinnen. Das bedeutet, dass die Schöne, als sie in die Heirat einwilligt, dies nur aus Dankbarkeit für seine Güte und Großzügigkeit tut. Disneys Version dagegen – in der sie das Biest besser kennenlernt und in ihm ihren Seelenverwandten erkennt – ist so viel romantischer.

Indem Villeneuve in ihrem Buch die Schöne zu einem Mitglied der königlichen Familie macht, fehlt der Geschichte viel vom Reiz der Disney-Version: Die Idee, dass ein einfaches Mädchen aus einem winzigen Dorf nur mit ihrer Liebe das Leben eines mächtigen Prinzen vollkommen verändern kann. So unterhaltsam wie die skandalöse Feen-Intrige des originalen Buches „La Belle et la Bête“ auch sein mag, die Disney-Version hat ein einfacheres und befriedigenderes Happy End.

Gwynne Watkins