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"Diese Schauspielerei ist einfach ein mieses Spiel"

Die deutsche Schiedsrichter-Zunft muss in diesen Tagen wieder mit reichlich Kritik leben - schließlich gab es am vergangenen Spieltag den Aufreger schlechthin. (NEWS: Alle aktuellen Infos zur Bundesliga)

Im Topspiel zwischen Eintracht Frankfurt und Borussia Dortmund hatte BVB-Stürmer Karim Adeyemi seinem Gegenspieler Jesper Lindström einen offensichtlichen Stoß verpasst, was weder Schiedsrichter Sascha Stegemann noch der VAR in Köln als elfmeterwürdig werteten. (Adeyemi irritiert nach Elfer-Wirbel)

Der Aufschrei in Fußball-Deutschland war groß - da half es auch wenig, dass Stegemann im STAHLWERK Doppelpass bei SPORT1 Abbitte leistete.

SPORT1 hat mit den drei ehemaligen Schiedsrichtern Peter Gagelmann, Thorsten Kinhöfer und Knut Kircher über die aktuelle Problematik gesprochen.

Wie wird die Fehlentscheidung von Frankfurt bewertet?

„Es ist unstrittig, dass Schiedsrichter Stegemann das Foul von Adeyemi nicht geahndet hat und sein VAR ihn auf diesen Fehler nicht aufmerksam gemacht hat. Da, wo Menschen urteilen, passieren Fehler“, sagt der frühere FIFA-Referee und heutige BamS-Schiedsrichter Kinhöfer. „Nur wenn gleichzeitig der Referee und sein VAR einen womöglich spielentscheidenden Fehler gleichzeitig begehen, gibt es viele Diskussionen. Und diese tun dem Schiedsrichterwesen und vor allem dem Projekt ‚Videoassistent‘ nicht gut.“

Der 54-Jährige war von 2006 bis 2015 FIFA-Schiedsrichter. Aufgrund der derzeit gültigen Altersgrenze von 47 Jahren für Schiedsrichter musste er im Profifußball ausscheiden.

Was hatte es mit dem Schubser von Adeyemi auf sich? Nach Betrachtung der TV-Wiederholung war für die meisten Begutachter der Partie klar, dass es sich dabei um einen glasklaren Elfmeter handelte. Auch der Großteil der 51.500 Fans im Stadion forderte naturgemäß Strafstoß - der Schiedsrichter blieb allerdings bei seiner Entscheidung. (NEWS: Kein Elfer? Adeyemi korrigiert sich)

Kircher, der 2012 zum Schiedsrichter des Jahres gewählt wurde und nach Erreichen der Altersgrenze 2016 seine aktive Laufbahn als Referee beendete, meint dazu: „Schade, dass bei den vorliegenden Bildern kein Impuls vom VAR an den Schiedsrichter zur Betrachtung der Szene kam und ebenso schade, dass im Schiedsrichter-Team auch kein Impuls aufkam, sich für Szene nochmals anschauen zu wollen.“

Für die Eintracht sollte es zu einem ganz bitteren Abend werden. Die Hessen ließen unzählige Hochkaräter liegen und mussten sich am Ende mit 1:2 geschlagen geben. Schiedsrichter Stegemann erntete nach Abpfiff ein gellendes Pfeifkonzert.

Was muss besser werden?

„Gemessen an dieser Szene gibt es leider nichts Großes zu diskutieren, sondern schlichtweg den Impuls zur Review Area zu geben. Idealerweise sieht der Schiedsrichter es schon auf dem Platz, was aber manchmal aufgrund des Stellungsspiels und dem daraus resultierenden Blickwinkel leider auch zu einer Fehleinschätzung kommen kann“, sagt Kircher.

„Was ich seit Wochen beobachte ist, dass der Referee auf dem Feld seine Stärke, Entscheidungen in Sekundenbruchteilen zu treffen, häufig aufgegeben hat. Viele Schiedsrichter entscheiden nicht mehr auf dem Spielfeld, sondern sie verlassen sich auf den VAR. Nach dem Motto - der wird mich schon informieren, wenn was gewesen ist“, glaubt Kinhöfer.

Alle Referees der Bundesliga seien in die Bundesliga gekommen, weil sie in allen Ligen „eine sehr, sehr hohe Trefferquote an richtigen Entscheidungen hatten“. Hier müsse man wieder dahin zurückkommen, dass der Schiedsrichter auf dem Spielfeld „schon die richtige Entscheidung trifft“.

Kinhöfer wird hier konkret: „Ein Beispiel ist der Strafstoß für Bayern am vergangenen Wochenende oder der Elfmeter für Freiburg auf Schalke. Das waren so klare Strafstöße, die muss ein Bundesliga-Schiedsrichter ohne VAR erkennen. Und wenn er solch klare Elfmeter auf den VAR abschiebt, dann muss man sich die Frage stellen, ob dieser Schiedsrichter in der Bundesliga richtig ist.“

Kinhöfer kritisiert zu viele VAR-Entscheidungen

Kinhöfer ist von den Schiedsrichtern überzeugt, „alle können es“, nur die Quote an VAR-Entscheidungen sei „viel zu hoch“.

Und hier legt der Ex-Referee den Finger in die Wunde. Die Schiedsrichter auf dem Spielfeld würden nicht mehr ihre Stärken „ausspielen“, nämlich richtige Entscheidungen zu treffen. Und ganz wichtig sei, „dass nicht nur die Referees sich hinterfragen müssen, sondern auch die Spieler“.

Im Moment sei immer häufiger zu sehen, „wie respektlos Spieler mit dem Schiedsrichter oder den Gegenspielern umgehen“. Hier nennt Kinhöfer als Beispiel das Foul von Frankfurts Tuta an Dortmunds Jude Bellingham kurz vor Schluss.

Ex-Schiri nennt Handball als Vorbild für Fußball

„Rudelbildung für eine Lappalie, alle Spieler dabei, der Torwart würgt einen Gegenspieler, jeder schubst jeden. Wofür? Für nichts. Beim kleinsten Foul wird gemeckert, kritisiert, Rudelbildung bei minimalste Vergehen. Respekt gleich null“, schimpft Kinhöfer.

„Diese Theatralik, diese Schauspielerei ist einfach ein mieses Spiel. Hier müssen die Schiedsrichter und die Vereine die Reißleine ziehen. Denn wenn ich mich bei jedem kleinsten Foul als Spieler so verhalte, dass der Rettungshubschrauber kommen muss und in der nächsten Sekunde putzmunter wieder am Spiel teilnehme, dann ist so ein Verhalten nicht zu akzeptieren.“

Für Gagelmann ist Kommunikation ganz entscheidend. „Wir kennen das alle, der eine sieht etwas, erklärt es jemand anderem und der versteht es für komplett anders. Nach wie vor ist die Kommunikation der Schlüssel zum Erfolg. Je genauer der Schiedsrichter mit dem VAR kommuniziert, desto größer ist die Wahrscheinlichkeit, eine ‚richtige‘ Entscheidung zu treffen.“

Kinhöfer fragt sich, warum das nur beim Fußball so ist. „Wird beim Handball - einer Mannschaftssportart wie Fußball und mindestens genauso hart, wenn nicht sogar härter - geschauspielert? Gibt es da Rudelbildungen für nichts? Nein. Und da müssen wir auch beim Fußball hinkommen.“

Sollte ein Ex-Profi im Kölner Keller sitzen?

Kinhöfer wäre für eine solche Idee zu haben. „Vielleicht sollte man dieses Experiment mal testen. Immer wieder höre ich in Gesprächen mit Ex-Profis, dass diese alleine schon an der Gestik und Mimik des Spielers, oder wie der Spieler fällt, wie er in ein Tackling geht, wissen, ob es sich um ein Foul handelt oder der Spieler schauspielert.“

Er regt daher an: „Warum bildet man nicht eine Projektgruppe und testet das mal parallel. Vielleicht ergibt sich daraus wirklich eine Win-Win-Situation für alle Beteiligten.“

Gagelmann meint dazu: „Ex-Spieler:innen sind schon immer eingeladen gewesen, auch Spielleitungen durchzuführen. Warum nicht auch als VAR? Nur leider befürchte ich, dass sich keine:r freiwillig meldet“, sagt er.

Kircher will eine solche Diskussion nicht an der Szene vom vergangenen Samstag festmachen, „da es schlichtweg ein Fehler war, der leider passiert ist“. Doch er räumt ein: „Warum sollte ein Ex-Profi nicht auch mal in den ‚Keller‘ gehen, wenn er das Regelwerk kennt und seinen Blickwinkel mit einbringt. Die Regularien lassen dies momentan jedoch noch nicht zu.“

Warum pfeift Aytekin in der 3. Liga?

Was bei der ganzen Thematik zudem verwundert: Am vergangenen Wochenende pfiff Deniz Aytekin als erfahrener Bundesliga-Schiedsrichter das Drittliga-Spiel der SpVgg Bayreuth gegen 1860 München.

Warum? „Weil alle DFB-Referees auch in der 2. Bundesliga oder der 3. Liga eingesetzt werden. Ein Top-Mann der Bundesliga wie Aytekin kommt in einer Saison auf circa 20 Erstliga-Spiele“, erklärt Kinhöfer. „An den anderen 14 Spieltagen ist er halt in der 2. Bundesliga, 3. Liga oder als VAR im Einsatz.“ Dies sei „ein ganz normaler Vorgang“ bei den Schiedsrichter-Ansetzungen.

Für Gagelmann sollte eine Partie wie Bayreuth gegen 1860 auch einen Top-Schiedsrichter verdienen. „Wenn die Frage sich darauf bezieht, dass Deniz das Spiel in Frankfurt hätte leiten sollen, ist die Besetzung mit Sascha Stegemann als international erfahrenem Schiedsrichter sicher nicht die schlechteste Lösung.“

So sieht es auch Kircher. „Die Ansetzer für die ersten drei Ligen haben pro Spieltag das ganze Repertoire dieser Schiedsrichter zur Verfügung und es passen zu allen einzuteilenden Spielen meistens mehrere Schiedsrichter. Dazu gehört ein Rhythmus über die ganze Saison und so kommt es, dass Deniz bei diesem Drittligaspiel zum Einsatz kam.“

Altersgrenze in der Kritik

Sollte die Altersgrenze für Bundesliga-Schiedsrichter nach oben gesetzt werden?

„Hier gibt es kein ja oder nein beziehungsweise ein richtig oder falsch“, findet Kinhöfer. „Dafür spricht, dass ein Referee heutzutage mit 47 Jahren topfit ist. Er hat die Reputation, die Akzeptanz bei den Vereinen aufgrund seiner Erfahrung und wenn er die Leistungsprüfungen besteht, warum nicht?“

Dagegen könne man argumentieren, „dass auch mal der Nachwuchs nach vorne muss und dieser seine Erfahrungen sammelt, damit die Talente irgendwann das Niveau von einem Top-Mann haben. Ich denke aber, dass auch in Deutschland in naher Zukunft die Altersgrenze wegfällt, so wie zum Beispiel in der Premier League“.

Für Gagelmann steht fest: „Sicher kann man das diskutieren, aber ich kann aus meiner Erfahrung nur sagen, dass es für die Gruppenstruktur des Teams der Bundesliga-Schiedsrichter wichtig ist, auch junge Schiedsrichter nachrücken zu lassen. Wie in einer Fußballmannschaft.“

Auch er habe davon profitiert, dass ein älterer Kollege in den Ruhestand ging und er somit die Bundesliga „über viele Jahre erleben und begleiten durfte“. Außerdem müsse man nicht glauben, „dass man unersetzlich ist. Kein Spieler, kein Trainer und auch kein Schiedsrichter sollte das von sich glauben“.

Es werde vermutlich bald zu einer Abschaffung der Altersgrenze kommen, könnte sich Kircher vorstellen, „wobei diese Grenze jahrelang ein Garant dafür war, dass ein steter Austausch zwischen Alt und Jung stattgefunden hat“. Er könne sich vorstellen, „dass unter anderem die Physis bei den angelegten Vorgaben zur Leistungsprüfung eine Grenze darstellen wird“.

Da werden sich die Verantwortlichen überlegen müssen, was sie zukünftig als Maßstab nehmen, denn es sei gleichzeitig wichtig, „dass die Schiedsrichter zu regelmäßigen Einsätzen in ihrer höchsten Spielklasse kommen und die Zahl der Schiedsrichter auch nicht zu sehr ansteigt, damit dies gewährleistet ist“.

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