Werbung

Immer mehr Digitalexperten und Ausländer in Deutschlands Aufsichtsräten

Die Senkrechtstarter des Jahres 2018 sind männlich, über 60 Jahre alt und Topmanager der heimischen Wirtschaft. Kurt Bock (60), bis vor wenigen Wochen Vorstandsvorsitzender des weltgrößten Chemiekonzerns BASF, platziert sich durch seine neuen und renommierten Aufsichtsmandate bei BMW und Münchener Rück gleich auf Rang 23 der mächtigsten Konzernkontrolleure.

Auch für Günther Bräunig gibt es im 63. Lebensjahr den nächsten Karriereschub: Im März wurde er Chef der Staatsbank KfW, kurz darauf wählten ihn die Aktionäre von Post und Telekom zum Aufsichtsrat. Mit seinem dritten Mandat als Chefaufseher der Pfandbriefbank sicherte sich Bräunig auf Anhieb Platz zwölf im Ranking der wichtigsten Aufsichtsräte 2018.

Das sieht nach alter Deutschland AG aus – amtierende Vorstände und Ex-Manager teilen unter sich die interessantesten Kontrollposten auf. Tatsächlich bewegt sich aber einiges hinter den Kulissen. Das haben Wirtschaftsprofessor Michael Wolff und sein Wissenschaftlerteam der Universität Göttingen festgestellt.

„Deutschlands Aufsichtsräte werden bunter“, sagt Wolff, der für das aktuelle Handelsblatt-Aufsichtsratsranking die Veränderungen in den 160 Überwachungsgremien der Dax-Familie analysiert hat. „Frauen rücken nach vorn, die Räte werden internationaler.“

Frauenanteil liegt bei 31 Prozent

Exakt 321 Aufsichtsposten waren in diesem Jahr neu zu besetzen. Frauen machten bei den neu gewählten Aufsehern 31 Prozent aus, bei wiedergewählten nur 26 Prozent. Neu bestellte Kontrolleure mit Auslandspass besetzten 36 Prozent der Mandate, im Amt bestätigt wurden nur 31 Prozent Ausländer.

Besonders bunt ging es in diesem Jahr bei Siemens zu. Gleich zwei Mandate gingen an Kandidaten, die definitiv nicht zum Klub der Deutschland-Aufseher zählen. Nemat Shafik, gebürtige Ägypterin und heutige Direktorin der London School of Economics (LSE), zog ebenso in das Kontrollgremium ein wie Benoît Potier, Chairman und CEO des französischen Linde-Rivalen Air Liquide.

Ganz abgesehen davon, dass der ehemalige SAP-Co-Vorstand und gebürtige Däne Jim Hagemann Snabe den Aufsichtsratsvorsitz von Altmeister Gerhard Cromme übernahm.

Daimler gelang mit der Wahl von Marie Wieck gleich ein Dreifachschlag. Die 57 Jahre alte Amerikanerin ist Managerin des IT-Konzerns IBM. Und verkörpert damit sowohl digitale Kompetenz wie Internationalität.
Aber auch deutsche Kandidatinnen laufen sich für Höheres warm.

Dazu zählen die ehemalige BASF-Vorständin Margret Suckale, die nun Telekom und Heidelberg Cement kontrolliert, und Simone Menne, einst Finanzchefin von Lufthansa und Boehringer. Menne hat es mit ihren Mandaten bei BMW und der Post bereits unter die Top 30 der einflussreichsten Aufseher geschafft.

Margarete Haase wiederum, langjährige Finanzchefin des Motorenbauers Deutz, ist nun in den Aufsichtsräten von Osram, Fraport und ZF präsent. Ihr wird wie Suckale und Menne zugetraut, bald ganz vorn in die Riege der mächtigsten Unternehmenskontrolleure des Landes aufzurücken.

Der reine Kreisverkehr, in dem männliche Vorstände deutscher Aktiengesellschaften die Aufsichtsräte ebendieser Unternehmen besetzen, scheint durchbrochen. Der Anteil gewählter Kandidaten mit Vorstandserfahrung sinkt. Bei den Wiederwahlen stellten Ex-Vorstände noch die Hälfte der Kandidaten in dieser Hauptversammlungssaison, die neu gewählten kamen dagegen auf 42 Prozent.

„Natürlich“, sagt Wolff, „gibt es einen Kern von Posten, der den klassischen Kandidaten zufällt. Kein Dax-Aufsichtsrat kommt ohne erfahrene Dax-Manager aus.“ Bei Neuwahlen zur Komplettierung der Aufsichtsgremien werde aber zunehmend auf andere berufliche Profile zurückgegriffen.

Christine Bortenlänger etwa, die geschäftsführende Vorständin des Deutschen Aktieninstituts und vormalige Börsenmanagerin, ist auf Platz 22 des Handelsblatt-Rankings vorgerückt. Auch ohne klassische Industrieerfahrung kontrolliert die 51-Jährige nun MTU Aero Engines, SGL Carbon, Osram und Covestro.

Der Wandel in den heimischen Aufsichtsräten weg von der traditionellen Besetzung mit Industriemanagern zieht sich aber hin. Selbst in einem Superwahljahr wie diesem, wo bald ein Drittel aller 1.065 Mandate neu zu vergeben waren, setzten die Chefkontrolleure auf gebremsten Wandel.

Aufsichtsräte werden gerne wiederholt berufen

Laut Studie wurden zu 55 Prozent Kandidaten erneut bestellt, die zuvor schon den Posten hatten. Im TecDax war der Austausch etwas intensiver, im MDax sogar noch deutlich niedriger.

Fünf Jahre braucht es, bis die Hälfte der Aufseher in allen 160 Dax-Firmen ausgewechselt ist. Auch im Jahresvergleich hat sich der Austausch nicht beschleunigt. Der Anteil neuer Aufseher ist seit 2011 jährlich in etwa konstant. Investoren geht der Wandel denn auch zu langsam. „Das Vertrauen hat oft einen höheren Stellenwert als die Kompetenz“, sagt Ingo Speich, Portfoliomanager bei Union Investment.

Nachteilig sei auch, dass die Strukturen zementiert werden und niemand gegen seinen Willen ausscheiden muss, „weil man sich unter alten Bekannten nicht wehtun will. Mehr Bewegung und frischer Wind in den Aufsichtsräten wäre gut für die Unternehmen.“

Bemerkenswert ist allerdings: Unter den Top Ten der einflussreichsten Räte hat es deutliche Veränderungen gegeben. Nur fünf von ihnen waren auch schon vor sieben Jahren dabei: Paul Achleitner, Ulrich Lehner, Jürgen Hambrecht, Henning Kagermann und Erhard Schipporeit. Ausgeschieden sind dagegen prominente Multiaufseher wie Gerhard Cromme oder Manfred Schneider.

Schipporeit ist in diesem Jahr zum einflussreichsten Aufsichtsrat aufgestiegen. Das verdankt er zwei Besonderheiten. Zum einen hat ihm der Erstplatzierte des Vorjahres, Werner Brandt, den Chefposten beim Energieversorger Innogy abgetreten, zum anderen wacht kein anderer Kontrolleur über so viele Unternehmen. Früher hat Schipporeit einmal die Finanzen bei Eon geordnet.

Der 69-Jährige beaufsichtigt neben Innogy die Versicherungskonzerne Hannover Rück und Talanx, den Schmierstoffproduzenten Fuchs Petrolub, die Softwareschmiede SAP und den Energieversorger RWE.

Bislang agierte Schipporeit in der zweiten Reihe, als einfaches Mitglied der Überwachungsgremien und vor allem als Mitglied zahlreicher Prüfungsausschüsse. Seine Finanzexpertise ist gefragt. Seit dem Jahreswechsel aber ist Schipporeit auch Vorsitzender eines Aufsichtsrats – jedenfalls solange es Innogy noch gibt. Das Unternehmen soll zwischen RWE und seinem alten Arbeitgeber Eon aufgeteilt werden.

So viele Mandate wie Schipporeit hat sonst kein Aufsichtsrat. Jedenfalls nicht in den Börsensegmenten Dax, MDax, SDax und TecDax. Das Gesetz lässt zwar zehn Posten zu, aber nur 93 der 946 Aufsichtsräte haben überhaupt mehrere Mandate. 74 überwachen zwei Unternehmen, 18 Aufseher haben maximal vier Mandate.

Ämterhäufung liegt nicht mehr im Trend

Ämterhäufung ist mittlerweile aus der Mode gekommen – zumal das sogenannte Overboarding ein heikler Punkt für Investoren ist. Immer häufiger werden Aufsichtsräte attackiert, wenn sie nach Meinung der Aktionäre zu viele Posten haben – selbst wenn sie an Multiaufseher Schipporeit nicht herankommen. Ihnen fehle dann die Zeit, lautet der Vorwurf, sich um das einzelne Unternehmen ausreichend zu kümmern.

Wolfgang Reitzle etwa, der Conti, Linde (jeweils als Vorsitzender) und Axel Springer kontrolliert, musste sich das schon anhören. Auch Jürgen Hambrecht mit seinen Mandaten bei BASF, Fuchs Petrolub und Daimler sah sich in diesem Jahr der Kritik ausgesetzt.

Im Handelsblatt-Interview kontert der 71-jährige ehemalige BASF-Chef allerdings: „Wenn ich ein Aufsichtsmandat wahrnehme, nehme ich es richtig wahr.“ Jeder müsse für sich selbst entscheiden, „welche Zeit er zur Verfügung stellen kann“.

Das Ranking der mächtigsten Aufsichtsräte entsteht jährlich im Anschluss an die Hauptversammlungssaison in Kooperation mit Professor Michael Wolff von der Universität Göttingen. Wolff und sein Team untersuchen dafür Aufsichtsmandate der Kapitalseite aus Dax, MDax, SDax und TecDax.

Die 160 Gesellschaften hatten in diesem Jahr 1.065 Mandate zum Stichtag 8. Juni vergeben. Die von den Arbeitnehmern gewählten Vertreter werden nicht analysiert.

Die Machtposition der Aufsichtsräte wird im Handelsblatt-Ranking in drei Kategorien bewertet: Reputation, Netzwerk und Status. In allen Kategorien können gleich viele Wertepunkte (100) vergeben werden.

Die persönliche Macht eines Aufsehers bemisst sich aus unterschiedlichen Quellen. Während einige Aufsichtsräte ihre Mandate in besonders relevanten Unternehmen ausüben wie beispielsweise Karl-Ludwig Kley (BMW, Eon, Lufthansa), zeichnen sich andere wie Norbert Reithofer (BMW, Siemens) durch qualitativ hochwertige Netzwerke oder durch ihren herausragenden Status aus.

Der kann etwa basieren auf einer langen Amtsdauer – wie bei Kurt Dobitsch (Nemetschek, United Internet, Drillisch, Bechtle).

Das lange Festhalten an Mandaten und die Ämteranhäufung sind Investoren inzwischen ein Dorn im Auge. Zwei Wahlperioden, was in der Regel acht Jahren entspricht, gelten ihnen als Maximum. Der Topkandidat in diesem Ranking, Erhard Schipporeit, sitzt beispielsweise seit 15 Jahren im Talanx-Aufsichtsrat.

Drei Amtszeiten sehen Investoren nicht mehr gerne

Solche Langzeitbesetzungen fallen allerdings statistisch kaum ins Gewicht. Der Median beträgt 5,33 Jahre. Beim Median hat jeweils die Hälfte der Aufsichtsräte eine längere oder kürzere Amtszeit. Besonders gefragte Kontrolleure bringen es aber wie Schipporeit auf drei Amtszeiten, was von Investoren inzwischen weitgehend abgelehnt wird.

Die Reputation eines Aufsichtsrates ist abhängig von der Indexzugehörigkeit des Mandats und der Größe des Unternehmens, gemessen an der Zahl der Beschäftigten und der Marktkapitalisierung. Dax-30-Gesellschaften bekommen mehr Punkte als ein SDax-Unternehmen. Der Vorsitz wird doppelt gewichtet.

Das Netzwerk ergibt sich aus den Gremien, in denen der Kandidat sitzt – und aus der Frage, welche weiteren Netzwerke die anderen Mitglieder dieser Räte einbringen. Der Status schließlich bewertet den Einfluss eines Aufsichtsrates innerhalb eines Gremiums. Hat er den Vorsitz? Wie viele Jahre läuft das Mandat bereits? Ist er ein ehemaliger Vorstand der Gesellschaft?

Dass ein Vorstand seinen ehemaligen Arbeitgeber kontrolliert, der Ex-CEO womöglich Aufsichtsratsvorsitzender wird, ist entgegen allgemeiner Vermutung vergleichsweise selten geworden. Nur noch sechs Prozent der Kontrolleure sind frühere Vorstandsmitglieder desselben Unternehmens.

Allerdings: Im führenden Börsenindex Dax ist dieser Postentausch, den der Gesetzgeber mittlerweile mit einer zweijährigen Zwangspause (Cooling-off) belegt hat, noch gang und gäbe.

So wird BASF in zwei Jahren mit Kurt Bock zum zweiten Mal den Ex-Chef zum Oberkontrolleur machen. Sein Aufsichtsratsvorsitzender Jürgen Hambrecht musste selbst zwei Jahre pausieren. Hambrecht setzt sich für die Abschaffung des Cooling-off ein.

Aber auch andere Unternehmen bleiben beim bewährten Personal: Michael Diekmann ist wieder bei Allianz angetreten, Wolfgang Reitzle bei Linde, Norbert Reithofer bei BMW, Werner Wenning bei Bayer.

Begründet wird diese Personalwahl mit der intimen Kenntnis der Konzernstrukturen. „Nur Ex-Vorstände“, sagt Hambrecht im Handelsblatt-Interview, „kennen das Unternehmen und dessen teilweise komplexe Machtfelder.“ Und deshalb wollen er und seine Kollegen in den anderen Unternehmen auch in Zukunft nicht auf die bewährten Kandidaten aus den Konzernvorständen verzichten.