Die Deutschen leben im Wohlstand – doch der ist gefährdet wie lange nicht

Der wirtschaftliche Ist-Zustand in Deutschland lässt sich nahezu mit einem der Slogans der CDU-Wahlplakate im letzten Bundestagswahlkampf beschreiben: „Ein Land, in dem wir gut und gerne leben.“ Jedenfalls schildern die Ökonomen der Industrieländerorganisation OECD die Lage ziemlich genau so: „Die Deutschen erfreuen sich eines hohen Lebensstandards“, heißt es im neuen Deutschland-Bericht der Organisation.

Bei fast allen Indikatoren des „Lebensqualitätsindexes“ der OECD schneidet Deutschland besser ab als der Durchschnitt der 34 Industrieländer.

In diesen Index fließen neben Wirtschaftskennzahlen auch Umfrageergebnisse zum Wohlbefinden ein: Dieses ist subjektiv und meist hoch. Arbeitsplätze gibt es genug, die Löhne steigen. Das soziale Umfeld mit Familie und Freunden stimmt, die Umweltqualität ist hoch, Jugendarbeitslosigkeit kaum vorhanden.

Auch die Gefahr, Opfer eines Verbrechens zu werden, ist nach dem Bericht viel geringer als anderswo. Die Wirtschaft wächst seit Jahren, die Staatskassen sind gut gefüllt.

„Ich halte das deutsche Wachstum für stabil“, sagte OECD-Chef Angel Gurria. Auch wenn es im ersten Quartal schwächer als erwartet ausgefallen sei, bleibe die OECD bei ihrer Wachstumsprognose von 2,1 Prozent jeweils in diesem und nächstem Jahr.

Alles prima also? Jein – lautet die Antwort mit Blick auf den Bericht, den Gurria an diesem Dienstag in Berlin vorstellte. Die Bundesregierung nutzt ihre finanziellen Spielräume zu wenig, um zu investieren – vor allem in die Bildung der Jüngsten.

Für Kitas und Grundschulen gibt Deutschland, gemessen am Bruttoinlandsprodukt, noch immer weniger aus als der Durchschnitt der Industriestaaten. Weit entfernt ist Deutschland da vor allem von den skandinavischen Ländern, den Paradiesen des Wohlbefindens.

Auch die älteren Arbeitnehmer werden – mit Blick auf die digitale Revolution – vernachlässigt: Weiterbildung für langjährig Beschäftigte findet viel zu wenig statt. Überhaupt hat die Bundesregierung in den vergangenen Jahren zu wenig getan, um das Land fit für die Digitalisierung zu machen: Die Verwaltung hinkt hinter dem Industrieländerdurchschnitt beim E-Government hinterher. Die digitale Infrastruktur ist ungenügend – vor allem angesichts einer Industrie, deren High-Tech-Anteil an den exportierten Gütern größer ist als in den USA und China.

„Es gibt drei Baustellen, auf die sich die Bundesregierung konzentrieren sollte: Auf Digitales, die Job-Qualität im Dienstleistungssektor und den Abbau des hohen Exportüberschusses“, sagte Gurria. Wenn es Entlastungen für Geringverdiener bei Steuern und Sozialabgaben gebe, fördere das den Konsum und damit auch die Importe.

Im Lebensqualitätsindex gibt es neben den vielen Stärken auch einige Schwächen: Während die Haushaltseinkommen wegen der Umverteilung im Steuer- und Sozialsystem vergleichsweise hoch sind, gilt dies nicht für Vermögen und Markteinkommen: Deutschland liegt da leicht unter dem OECD-Durchschnitt.

Auch die Wohnverhältnisse sind etwas schlechter: Das Land der Mieter kämpft mit möglichen Wohlstandsverlusten durch steigende Mieten in den Ballungsräumen.

Und: Der Niedriglohnsektor versorgt zwar inzwischen fast jeden mit einem Arbeitsplatz – nur die Aufstiegschancen bleiben schlecht, so wie die Chancengerechtigkeit im Bildungssystem laut Bericht zwar „deutlich besser“ geworden ist, aber immer noch nicht hervorragend. Wer aus einem bildungsfernen Elternhaus stammt, hat es schwer aufzusteigen.

„Die duale Berufsausbildung ist zwar ganz hervorragend, um in den Beruf zu starten. Die Aufstiegs- und Verdienstchancen sind danach aber in diesem Zweig wesentlich schlechter als für Universitätsabsolventen“, kritisiert Gurria. Auch berufliche Weiterbildungsangebote richteten sich viel zu sehr an die bereits gebildeten Arbeitnehmer.

Die OECD mahnt außerdem erneut, dass Deutschland sich stärker auf den demografischen Wandel vorbereiten müsse: Das Renteneintrittsalter sollte an die steigende Lebenserwartung gekoppelt werden, verlangen die Ökonomen wie schon im vergangenen Deutschland-Bericht vor zwei Jahren.

Auch, dass noch immer viele Frauen in der Teilzeitfalle steckten, bemängeln die Ökonomen: Wenn Frauen bessere Karrierechancen hätten, würde das auch dem schwachen Produktivitätswachstum helfen. Diese Kennziffer ist die aktuell wohl größte Schwäche Deutschlands.

Denn das Produktivitätswachstum ist eine Schlüsselgröße für künftigen Wohlstand: Bleibt es so schwach wie in den vergangenen Jahren, könnte der demografische Wandel Deutschland wirklich hart treffen. Gelingt es dagegen, es wieder zu steigern, verkraftet das Land mit wachsendem Wohlstand auch einen höheren Rentneranteil an der Bevölkerung. Investitionen sind dafür auch hier der Schlüssel: in digitale Start-ups, in die Förderung des Unternehmertums und in die Infrastruktur.