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Daum: Ich saß vor dem TV und habe Bayern Beifall geklatscht

Daum: Ich saß vor dem TV und habe Bayern Beifall geklatscht

Corona und Geisterspiele haben das Fußballjahr 2020 geprägt. Grund genug, um mit einem der extremsten Trainer seiner Zeit darüber zu sprechen: Christoph Daum.

Er gehörte einst zu den schillerndsten Figuren der Bundesliga. Die Fans von Bayer Leverkusen wählten ihn 2019 zum beliebtesten Trainer der Vereinsgeschichte.

Jetzt empfing der 67-Jährige SPORT1 zu Hause. Um zurückzuschauen, aber auch den Blick nach vorne zu richten.

SPORT1: Herr Daum, was war für Sie im vergangenen Jahr trotz Corona das Fußball-Highlight?

Christoph Daum: Es gab mehrere tolle Spiele. Eine der letzten Partien, die ich besuchen konnte, war der 4:3-Sieg von Bayer Leverkusen gegen Borussia Dortmund. Ein Riesenspiel, das hätte auch 7:6 enden können. Beide haben das Spiel offensiv geführt, es gab einen hohen Unterhaltungswert mit sehr viel Qualität. Natürlich bleibt auch das 8:2 vom FC Bayern über den FC Barcelona im Gedächtnis. Da saß ich vor dem Bildschirm und habe Beifall geklatscht. Es war ein Lehrfilm, wie man einen Gegner unter Druck setzt, ein Spiel aufbaut und wie individuelle Aktionen sich mit denen des ganzen Teams abwechseln sollten. Ein absolutes Highlight 2020. (SERVICE: Bundesliga-Tabelle)

SPORT1: Gab es auch einen größten Aufreger für Sie?

Daum: Ja, das war natürlich das 0:6 der deutschen Nationalmannschaft gegen Spanien. Es war unerwartet, aber es war auch ein Tag, an dem alles zusammenkam und an dem man am liebsten im Bett geblieben wäre. Die spanische Mannschaft hat sich in einen Rausch gespielt. Der Funke sprang von einem Spieler auf den anderen über. Und genau das Gegenteil spielte sich bei der deutschen Nationalmannschaft ab. Der eine wurde schwächer und infizierte den Nächsten und so hatten wir den Dominoeffekt genau in die andere Richtung. Dieses Spiel ist völlig aus dem Ruder gelaufen.

SPORT1: Leroy Sané gilt als Königstransfer des FC Bayern, ist bislang aber noch nicht wirklich angekommen. Sind Sie überrascht?

Daum: Die Frage ist, welche Erwartungshaltung man an so einen Transfer hatte. Es ist heute häufig so, dass ein Spieler bei einer hohen Transfersumme auch sofort funktionieren muss. Aber diese Erwartungshaltung gleich so hoch zu setzen, ist falsch. Auch Leroy Sané braucht eine gewisse Zeit, um sich auf das System, auf die Denkweise der Bayern einzustellen und hat auch eine sehr große Konkurrenzsituation dort. Er hat noch nicht zu der Konstanz gefunden, die wir eigentlich von ihm gewohnt sind. Er hat das Potential diesen Schritt zu machen und alle im Klub werden ihn dabei unterstützen. Leroy muss nur selbst die Bereitschaft zur Veränderung erkennen. Wenn das nicht der Fall ist, werden alle, die ihm von außen helfen wollen, nicht den gewünschten Effekt erzielen können. Helfen ist die eine Sache, sich helfen lassen eine andere.

Flick, Kohfeldt und Bosz

SPORT1: Wer ist für Sie der Trainer des Jahres 2020?

Daum: Da gibt es für mich mehrere Kandidaten. Vom Erfolg her natürlich Hansi Flick. Er ist bei der Wahl zum Welttrainer auf Platz 2 gekommen - hinter Jürgen Klopp, der mit Liverpool Meister in der Premier League wurde. Flick hat mit den Bayern etwas geschafft, was ihm keiner zugetraut hat, nämlich fünf Titel und das auf beeindruckende Art und Weise. Als er 2019 als Interimslösung begann, hatte das keiner erwartet. Ich möchte aber auch Florian Kohfeldt nennen, der mit Werder Bremen den Klassenerhalt schaffte und den Klub in ruhigere Tabellen-Regionen zurückführt. In Bremen hat man zusammengehalten und es stellt sich langsam Erfolg ein. Kohfeldt hätte gehen können, aber er hat sich dieser Herausforderung gestellt und das nötigt mir Respekt ab. Im gleichen Atemzug muss ich auch Peter Bosz und seinen Leverkusenern ein riesen Kompliment machen. (SERVICE: Bundesliga-Spielplan)

SPORT1: Lucien Favre wurde beim BVB entlassen. War er nie der richtige Trainer für die Dortmunder?

Daum: In Dortmund ist immer noch der Mythos Jürgen Klopp zu Hause. Egal, welcher Trainer kommt, es wird schwierig für ihn, wenn er keinen Titel holt. Vom Punkteschnitt hat Favre beim BVB sehr erfolgreich gearbeitet, aber er hat keinen Titel gewonnen. 'Warum holt er nicht mehr aus den Einzelnen heraus?', 'warum ist er nicht dominanter an der Seitenlinie?', 'warum ist er nicht emotionaler in den Interviews?'. Und schon werden Dinge zusammengefügt, die der Leistung Favres in Dortmund nicht gerecht werden. Inwieweit die Dortmunder sich mit diesem Trainerwechsel einen Gefallen getan haben, kann ich hier nicht beurteilen. Ob wir Edin Terzic in der nächsten Saison noch beim BVB auf der Bank sehen werden, wage ich zu bezweifeln. Das hat nichts mit seiner Qualität und Kompetenz zu tun. Das hat mit dem Mythos Klopp zu tun. Man wird versuchen, wieder einen ähnlichen, charismatischen Trainer zu verpflichten.

Daums Favorit als neuer BVB-Trainer

SPORT1: Nämlich?

Daum: Es gibt für mich nur einen: Julian Nagelsmann. Er vereint alle die Kriterien aus Fachwissen und Emotionalität, die die Dortmunder sich wünschen. Er hat auch schon in zwei Vereinen bewiesen, dass er eine Mannschaft besser machen kann. Nagelsmann versteht es auch mit jungen Spielern zu arbeiten und diese zu integrieren. Er ist zudem noch ein guter Koordinator. Aber es läuft wohl alles auf Marco Rose hinaus, den ich auch sehr schätze.

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SPORT1: Der FC Bayern war die Mannschaft in der ersten Jahreshälfte, wer ist das Team des zweiten Halbjahres?

Daum: Eigentlich Bayer Leverkusen. Wenn sie das letzte Spiel gegen Bayern München wenigstens Unentschieden gespielt hätten, wären sie es definitiv. Hätte, wenn und aber zählt aber nicht. Leverkusen hat dennoch eine klasse Serie hingelegt und das nicht nur in der Bundesliga, sondern auch in der Europa League. Und das in einer Situation, in der die besten Spieler gingen. Auch hier muss ich Nagelsmann beziehungsweise Leipzig nennen. Er hat mit Leipzig in einer Mördergruppe der Champions League die Gruppenphase mit beeindruckenden Leistungen überstanden. Selbst diese außergewöhnliche 0:5-Niederlage bei Manchester United hat die Mannschaft nicht aus der Bahn geworfen. Solche Rückschläge führen bei manchen Teams zu Zerwürfnissen. RB war wie ein angeschlagener Boxer, der wieder aufgestanden ist.

SPORT1: Ihr früherer Klub, der VfB Stuttgart, hat sehr überrascht. Oder?

Daum: Absolut. Die Auswärtsspiele waren sensationell. Der VfB konnte zu Hause die Spiele nicht so dominieren. Da müssen sie noch einen nächsten Schritt gehen. Auswärts aber verstehen sie es, mit einem überfallartigen Umschaltspiel die Heimmannschaft auszukontern. Aber es ist nicht nur eine Kontermannschaft, sie zeigten auch extreme Spielfreude. Wenn ich nur an das Spiel in Dortmund danke, da haben sie klasse gespielt. Eine weitere positive Überraschung des Jahres war Union Berlin.

"Gisdol hat neue Dinge ausprobiert"

SPORT1: Ihr Herzens-Klub, der 1. FC Köln, kämpft gegen den Abstieg. War es ein Fehler, frühzeitig mit Trainer Markus Gisdol zu verlängern?

Daum: Nein. Eine Vertragsverlängerung des Trainers macht nicht die Mannschaft oder einzelne Spieler besser oder schlechter. Ein Profi nimmt das auch nur am Rande zur Kenntnis. Ich stelle mir vielmehr die Frage, wie die taktische Ausrichtung aussehen sollte. Gisdol hat neue Dinge ausprobiert, als es dann Rückschläge gab. Bis er sagte, dass er das System mit den Spielern durchziehen werde. Erst dann hat er die Truppe in ruhigeres Fahrwasser geführt. Die Kölner werden bis zum letzten Spieltag um den Klassenerhalt kämpfen müssen. Ich wünsche allen Beteiligten, dass sie Ruhe bewahren, eine gemeinsame Sprache sprechen und zusammenhalten. Wenn das geschafft wird, kann der Ligaverbleib gelingen.

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SPORT1: Beim DFB wurde keine gemeinsame Sprache gesprochen. Spätestens seit dem 0:6 gegen Spanien hat man das Gefühl, dass den Deutschen die Lust auf die Nationalmannschaft abhanden gekommen ist. Wie sieht es da bei Ihnen aus?

Daum: Ich habe immer Bock auf die Nationalmannschaft. Sie ist und bleibt das Aushängeschild des deutschen Fußballs. Beim DFB-Team hatte man schon eine Identifikation mit dem Team hergestellt. Die Fans haben 2014 in Brasilien vor Ort und daheim mitgefiebert. Da hat man sein letztes Hemd für die Nationalelf gegeben. Die Fan-Gemeinde war unheimlich groß. Dieser Zusammenhalt begann 2016 bei der EM in Frankreich zu bröckeln. Da hatten alle aber noch den WM-Titel von 2014 im Kopf und dachten 'kann ja mal passieren'. Doch 2018 in Russland war es der Super-GAU. Der DFB hat dann auch in der Außendarstellung kein gutes Bild abgegeben. Ich sage nur Steuer-Affäre. Zuletzt kam auch noch raus, dass der Verband in zwei Gruppen gespalten ist (DFB-Generalsekretär Friedrich Curtius und DFB-Präsident Fritz Keller, d. Red.). Es wird nicht mit einer Sprache gesprochen. Das Bild des DFB ist katastrophal. Und das wirkt sich auf die Werte der Nationalmannschaft aus.

"Schwerpunkte müssen beim DFB neu justiert werden"

SPORT1: Oliver Bierhoff sagte die Nationalelf sei nicht mehr des deutschen liebstes Kind.

Daum: Das entspricht der aktuellen Einschätzung. Oliver ist da Realist und sagt klar, dass der DFB sich neu aufstellen und ausrichten muss. Es gibt das Projekt Zukunft und da wird besprochen, wie man mit den Fans umgehen und auf sie zugehen will. In den zurückliegenden Jahren hat man sich immer mehr von den Fans entfernt. Es schien so, als ob irgendwelche PR-Termine wichtiger waren als Fan-Belange. Die Schwerpunkte müssen beim DFB neu justiert werden.

SPORT1: War es richtig an Joachim Löw festzuhalten?

Daum: Die Frage ist 'Wer ist die Alternative'?

SPORT1: Aber nur deshalb an ihm festzuhalten, kann ja auch nicht die Lösung sein.

Daum: Vollkommen richtig. Nur kennt keiner die Mannschaft so gut wie Joachim Löw. Die EM in diesem Jahr wird sicher ein Gradmesser sein für den Bundestrainer. Da wird sich zeigen, ob die Nationalmannschaft in ihrem Verjüngungsprozess auf dem richtigen Weg ist. Ich habe schon im Doppelpass gesagt, dass die Zielrichtung die EM 2024 im eigenen Land sein muss. Da muss das Team eine realistische Titelchance haben. Löw ist jetzt gefordert, er hat einen klaren Weg vorgegeben mit dem Umbruch und muss sich daran messen lassen. Und die Rufe nach Müller, Boateng und Hummels müssen verstummen, sie zurückzuholen würde überhaupt nicht in das Konzept von Löw passen. Wenn die EM 2021 enttäuschend verlaufen sollte, wird Löw die Konsequenzen ziehen. Natürlich geht es bei einer Vertragsauflösung auch um Geld, denn er hat noch einen Vertrag bis 2022. Und der DFB ist finanziell nicht mehr so auf Rosen gebettet. Eine Abfindung für Löw kann nicht aus der Portokasse gezahlt werden.

SPORT1: Lothar Matthäus sagte jetzt, dass dann nicht nur Löw gehen müsse, sondern auch die Personen, die an ihm festgehalten haben.

Daum: Ich schätze Lothar sehr, er macht das als Experte richtig gut. Inwieweit er einen Einblick in die strukturelle und organisatorische Ausrichtung hat, kann ich nicht sagen. Er hat aber recht, wenn es nach der EM 2021 wieder mehr Fragen als Antworten geben sollte. Ob es dann in der Führungsetage einen Kahlschlag geben wird, wage ich zu bezweifeln. Keller muss dann die Zügel mehr in die Hand nehmen und den DFB neu aufstellen, vielleicht auch nur mit der einen oder anderen Personal-Angleichung. Der DFB muss sich ohnehin etwas verjüngen und neu orientieren.

Ist Löw beratungsresitent?

SPORT1: Ist Löw beratungsresistent? Seine Ansprachen seien nicht mehr so klar wie früher, meint Matthäus.

Daum: Der Eindruck ist nur durch ein Interview zustande gekommen, als er zuletzt alle kritischen Stimmen wegbügelte. Aber das ist nicht Jogi Löw. Er wollte nur nicht darauf eingehen. Er hört sich sehr wohl an, was in seinem Team gesagt wird und welche Eindrücke es da gibt. Löw überprüft sich permanent, ist ein sehr selbstkritischer und reflektierender Trainer. Ich weiß das, weil ich ihn sehr gut kenne. Er hat immer ein offenes Ohr für Verbesserungen. Aber kürzlich nach dem 0:6 kamen keine Verbesserungsvorschläge, sondern fast nur Angriffe gegen seine Person.

SPORT1: Sie wären 2000 fast Bundestrainer geworden. Was glauben Sie, muss ein Bundestrainer heute haben und ist es wirklich noch so reizvoll für einen Klubtrainer diesen Job zu machen?

Daum: Ich würde mir von einem Bundestrainer wünschen, dass er mehr Einfluss nimmt auf die Trainer-Ausbildung und auf die Wettbewerbe in den Nachwuchsbereichen. Er sollte mit seiner Vorbildfunktion mehr Präsenz an der Basis zeigen. Bei den Trainern und den Landesverbänden. Bundestrainer zu sein, ist für mich immer noch das Größte. Dafür gibt es keinen Preis. Leider kam es damals anders.

SPORT1: Jürgen Klopp schwärmt in Ihrem Buch "Immer am Limit" von Ihnen. Zuletzt hat er Mehmet Scholl für seine Kritik an der Trainer-Ausbildung im deutschen Fußball scharf attackiert. "Das ist ungefähr so, als würde ich über Autobau sprechen, da habe ich auch keine Ahnung von", sagte Klopp. Wie sehen Sie Scholl?

Daum: Klopp hat natürlich recht, was seine Kompetenz im Bereich Autobau betrifft. (lacht) Aber Mehmet hat Fußball-Kompetenz, hat sehr viele Trainer gehabt, war ein toller Spieler und hat mit der Nationalmannschaft große Erfolge gefeiert. Er hat ein gutes Gespür für Entwicklungen, seine Ausdrucksweise ist für manche gewöhnungsbedürftig. Mehmet hat einen tollen Humor, ist ein toller Witze-Erzähler, das kommt in vielen Statements zum Ausdruck. Klopp hat sich generell für die Trainer und hier speziell für einen jungen Kollegen bei seinem BVB eingesetzt. Er wollte damit sagen 'Stop! Wir Trainer sind kein Freiwild' Aber von der Tendenz her liegt Mehmet in seinen Analysen meistens richtig.

SPORT1: Abschließend, welche Zukunftspläne haben Sie denn?

Daum: Mein Buch endet mit dem Satz 'Das war noch lange nicht alles'. Ich möchte mit meiner Erfahrung helfen und schon gerne das Wissen dem Fußball zukommen lassen. Ich will nicht nur als Gärtner und Golfspieler unterwegs sein. Mit meinen Vorträgen verdiene ich gutes Geld, aber meine Kernkompetenz ist der Fußball. Leider rührt man sich beim FC nicht, ich habe mehrfach angeboten zu helfen, aber nicht unter dieser Führung. Ich muss mich nicht aufdrängen, habe einige heiße Eisen im Feuer. Für viele ist Fußball nur ein Spiel, für mich ist es mein Leben. Und das ist noch lange nicht zu Ende.