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Corona, Affenpocken, Polio: Sieben Gründe, warum es gerade immer mehr Infektionskrankheiten gibt

 - Copyright: Studio Romantic / Shutterstock.com
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Bisher war 2022 ein historisches Jahr für infektiöse Krankheiten, Covid alleine ist aber nicht der Grund dafür. Zunächst gab es Berichte über kleine Kinder mit mysteriösem und lebensbedrohlichem Leberversagen in Europa und den USA. Dann tauchten weltweit so viele Fälle von Affenpocken auf, wie nie zuvor.

Nach Angaben von Epidemiologen des Bundesstaates Florida starben in diesem Jahr in mindestens ein Dutzend Menschen an Meningitis, während ein tödliches Parechovirus Neugeborene in mehreren US-Bundesstaaten infizierte. In Australien und Belgien feierte die Diphtherie ein Comeback, und in Ghana wurden zum ersten Mal Fälle des Marburg-Virus festgestellt. Erst vor einigen Wochen gab die Stadt New York bekannt, dass sich in ihrem Abwasser Polio befindet, ebenso in der Londoner Kanalisation.

"Es ist, als ob alle biblischen Plagen zurückkommen würden, oder?", sagte Madhukar Pai, Experte für globale Gesundheit an der kanadischen McGill Universität, im Gespräch Business Insider. Es sei zwar nicht über Nacht geschehen, und es ist auch keine direkte Folge der Pandemie, aber Krankheitsexperten sind sich einig: Das Tempo neuer Infektionsausbrüche beschleunigt sich.

Pai und andere hochrangige Experten sagen, dass es keine einzelne, "einfache" Erklärung gibt. Stattdessen gebe es ein weites Netz aus mindestens sieben starken, miteinander verwobenen Faktoren, die dem Trend zugrunde liegen.

"Es ist definitiv nicht das, was wir uns im Bereich der öffentlichen Gesundheit erhofft haben, aber es ist leider auch eine Situation, die wir befürchtet haben", sagt Jay Varma, Experte für Krankheitsbekämpfung und Prävention an der Cornell University. "Wenn man es mit einem Sportereignis vergleicht, ist die Offensive intensiver geworden. Das wären dann die Viren und Krankheitserreger, die es da draußen gibt - unsere Verteidigung ist gleichzeitig schwächer geworden."

Dies sind sieben mögliche Gründe, warum Krankheiten 2022 extreme Ausbrüche erleben.

1. Menschen und Tiere haben mehr Kontakt als früher

Nerze sind einer der Gründe warum COVID sich rasant ausbreitet. - Copyright: Kit MacAvoy/SOPA Images/LightRocket/Getty Images
Nerze sind einer der Gründe warum COVID sich rasant ausbreitet. - Copyright: Kit MacAvoy/SOPA Images/LightRocket/Getty Images

Der Klimawandel vertreibt Menschen und Tiere aus ihren gewöhnlichen Lebensbereichen, Haustiere und tierische Produkte reisen um den gesamten Globus. Die weltweite Nachfrage nach Fleisch erreicht einen neuen Höchststand, somit kommen wir kollektiv viel häufiger als früher mit allen Arten von Tieren in Kontakt. "Die Schnittstelle zwischen Mensch und Tier ist durchbrochen", so drückte es Larry Brilliant kürzlich aus. Brilliant war an der Ausrottung der Pocken beteiligt.

Die Weltgesundheitsorganisation schätzte 2014, dass 75 Prozent der heute neu auftretenden Krankheitserreger ihren Ursprung bei Tieren haben - eine Zahl, die in den letzten Jahrzehnten immer schneller gestiegen ist.

Durch die Interaktion zwischen Mensch und Tier hat sich Covid erst überhaupt auf den Menschen übertragen. Ebola, HIV, MERS, SARS, Influenza und Affenpocken haben ebenfalls tierische Wurzeln. Wenn eine Krankheit vom Tier auf den Menschen übergreift, hat sie immer das Potenzial, einen neuen Ausbruch auszulösen. "Der erste Faktor, der die Übertragung vorantreibt, ist die zunehmende Interaktion zwischen Mensch und Tier in einem nicht ganz natürlichen Umfeld oder in einem Umfeld, das sich von dem der Vergangenheit unterscheidet", so Varma.

Die Abholzung von Wäldern, die Abwanderung von Vieh und der illegale Handel mit Wildtieren - sie alle spielten eine Rolle. "Die menschliche Bevölkerung ist heute so groß, dass wir in alle möglichen Ökosysteme eindringen und dort auf neuartige Organismen stoßen werden - Organismen, gegen die wir bisher kaum immun waren", fügt Pai hinzu.

2. Menschen werden immer mobiler, die Migration steigt

Die internationalen Reisen nehmen seit Beginn des Jahres wieder zu. - Copyright: Christoph Soeder/picture alliance via Getty Images
Die internationalen Reisen nehmen seit Beginn des Jahres wieder zu. - Copyright: Christoph Soeder/picture alliance via Getty Images

Die globale, vernetzte und soziale Natur des modernen Lebens trägt dazu bei, dass sich Krankheiten effizienter denn je unter Menschen verbreiten. Jede Infektionskrankheit ist nur einen Flug entfernt.

"Jedes Mal, wenn jemand ein Flugzeug besteigt, besteht ein winziges Risiko, dass er etwas Neues mit sich führt", erklärt Eric Rubin, Chefredakteur des New England Journal of Medicine, im Interview mit Business Insider. "Je mehr Menschen ein Flugzeug besteigen, desto mehr steigt dieses Risiko." Es sei ein Zahlenspiel. Und da die Zahl der Flugreisenden derzeit sprunghaft ansteigt, könnten sich neue Krankheitserreger sehr schnell und sehr weit verbreiten.

Im Jahr 2022 wurden sowohl die Affenpocken als auch die Kinderlähmung per Flugzeug eingeschleppt und infizierten Menschen auf neuen Kontinenten. Umgekehrt verschwanden die jährlichen Grippeviren für ein Jahr, als der weltweite Reiseverkehr 2020 zum Erliegen kam.

3. Der Klimawandel wird immer schlimmer

 - Copyright: Michael Hall/The Image Bank/Getty Images
- Copyright: Michael Hall/The Image Bank/Getty Images

Eine am 8. August in der Zeitschrift Nature veröffentlichte Untersuchung legt nahe, dass die meisten menschlichen Krankheitserreger auf der Erde durch den Klimawandel in irgendeiner Weise "verschlimmert" werden. Bei vielen von ihnen ist dies bereits der Fall.

"Durch Insekten übertragene Krankheiten haben veränderte Muster – weil die Insekten, die sie übertragen, jetzt eine viel größere Reichweite haben", sagt Rubin. Er verwies auf die Art und Weise, wie sich das Zika-Virus - eine einst auf Afrika beschränkte Krankheit - über Asien und Amerika ausbreiten konnte. Auch Chikungunya ist jetzt eine globale Krankheit und nicht mehr die regionale Bedrohung, die sie einmal war. "Die Tropen haben sich nach Europa und Nordamerika verlagert", sag Varma.

4. Es gibt nicht genug Routineimpfungen für Kinder

Einem Jungen wird im Impfzentrum Ingelheim der Corona-Impfstoff von Biontech verabreicht.  - Copyright: picture alliance/dpa | Sebastian Gollnow
Einem Jungen wird im Impfzentrum Ingelheim der Corona-Impfstoff von Biontech verabreicht. - Copyright: picture alliance/dpa | Sebastian Gollnow

Während der Pandemie sanken die Impfungen weltweit in einer Weise, wie sie seit Jahrzehnten nicht mehr dokumentiert wurde. Die WHO spricht vom "größten anhaltenden Rückgang der Kinderimpfungen seit etwa 30 Jahren".

Hinzu kam, dass in vielen reichen Ländern bereits ein Rückgang der Impfquoten zu verzeichnen war, der durch Fehlinformationen und zögerliche Haltung gegenüber Impfungen noch verstärkt wurde. „Wir müssen dafür sorgen, dass sich jeder impfen lässt, sonst sind wir alle gefährdet“, meint Varma.

5. Die ganze Welt trägt nun die Konsequenz davon, dass die Krankheitsausbrüche in den Entwicklungsländern immer wieder vernachlässigt wurden

 - Copyright: Biontech
- Copyright: Biontech

"All die Jahre gab es in Afrika die Affenpocken – niemand hat etwas unternommen, niemand hat sie geimpft", sagt Pai. "Und jetzt wollen plötzlich alle reichen Länder gegen Affenpocken geimpft werden - und bekommen die Impfung auch." Letztendlich, so Pai, "zahlen wir den Preis" für solch "archaisches", "engstirniges" und kurzsichtiges Krankheitsmanagement.

"Wenn die Affenpocken in Afrika besser behandelt worden wären, hätten sie sich nicht in der ganzen Welt ausgebreitet. Wäre Covid in Ländern mit niedrigem und mittlerem Einkommen besser gehandhabt worden, wären keine neuen Varianten aufgetreten. Wäre Ebola in Westafrika eingedämmt worden, noch bevor es sich ausbreitete, wäre es nicht in die USA gelangt."

6. Unsere Wahrnehmung bezüglich Krankheiten hat sich verändert

Die ProMED Karte zeigt die Entwicklung von infektiösen Krankheiten weltweit und ist öffentlich zugänglich. - Copyright: International Society of Infectious Diseases
Die ProMED Karte zeigt die Entwicklung von infektiösen Krankheiten weltweit und ist öffentlich zugänglich. - Copyright: International Society of Infectious Diseases

Auch unsere Erfahrungen während der Pandemie haben uns geprägt. Und wir können nicht umhin, dieses Wissen in die Nachrichten über Infektionskrankheiten einzubringen, die wir jetzt lesen.
In einigen Fällen werde es etwas übertrieben, findet Pai. "Irgendein kleiner Ausbruch in irgendeiner Ecke auf einem Markt in China und schon flippt die ganze Welt aus". In vielen Fällen sei die erhöhte Besorgnis jedoch gerechtfertigt.

Heutzutage verfügen die Wissenschaft auch über bessere Instrumente als je zuvor, um zu erkennen, was vor sich geht. Forschende können Viren sequenzieren, Fälle testen und die Alarmglocken läuten lassen, was vor Jahren noch nicht möglich war.

"Corona hat die Art und Weise, wie wir diese Dinge wahrnehmen, wirklich verändert", so Rubin. Gemeint ist damit sowohl der durchschnittliche Nachrichtenleser als auch professionelle Wissenschaftler. "Jeden Tag wird irgendwo auf der Welt über irgendeine Krankheit berichtet", sagt er - und das lege zum Teil daran, dass wir all diesen Dingen mehr Aufmerksamkeit schenken als früher.

7. Wir wissen immer noch nicht, wie die Infektion mit Corona unser Immunsystem beeinflussen wird

Der ehemalige Leiter des National Institutes of Health, Dr. Francis Collins, hält hier ein Modell des Coronavirus. - Copyright: Sarah Silbiger-Pool/Getty Images
Der ehemalige Leiter des National Institutes of Health, Dr. Francis Collins, hält hier ein Modell des Coronavirus. - Copyright: Sarah Silbiger-Pool/Getty Images

Neue Krankheitsbedrohungen sind derzeit besonders alarmierend, weil noch nicht klar ist, welche Auswirkungen Corona auf unsere Immunabwehr hat. "Wir werden in den kommenden Jahren erfahren", so Pai, "ob Covid das Immunsystem in gewissem Maße durcheinanderbringt, und was uns allgemein anfälliger für diese Krankheit macht."

Schon jetzt befürchte er, dass die übermäßige Abhängigkeit der Ärzte von der Verschreibung von Steroiden und Antibiotika während der Pandemie zu mehr Pilzinfektionen, Super-Bakterien und antimikrobieller Resistenz führen könnte.

Es kommt eine weitere Pandemie auf uns zu

Personen die auf ihre Impfung gegen Affenpocken warten. - Copyright: Francois Lo Presti/AFP via Getty Images
Personen die auf ihre Impfung gegen Affenpocken warten. - Copyright: Francois Lo Presti/AFP via Getty Images

Wissenschaftler gehen davon aus, dass sich die Wahrscheinlichkeit einer weiteren Pandemie in "den kommenden Jahrzehnten verdoppeln könnte." Dies liegt daran, dass Krankheitsausbrüche, die durch eine Vielzahl miteinander verbundener, komplexer Faktoren ausgelöst werden, immer häufiger auftreten.

Aber wenn es um die Prävention von Krankheiten geht, "ist es besser, nicht zu denken, dass die zehn Plagen gleichzeitig ausgebrochen sind", sagt Rubin. "Jede Krankheit ist anders", mit unterschiedlichen biologischen Merkmalen, unterschiedlichen Gründen für ihr Auftreten und unterschiedlichen Arten der Übertragung und Prävention.

"Die Antwort lautet: mehr Investitionen in die öffentliche Gesundheit, richtig?", so Pai. Oft sind es "Dinge, die wir aufgegeben haben", meint er. Interventionen, die "untergraben werden", wie sauberes Trinkwasser, gute sanitäre Einrichtungen, Impfstoffe, gerechter Zugang zu ärztlicher Behandlung und klinischer Versorgung sowie eine solide Krankheitsforschung. "Unser Rassismus in der Art und Weise, wie wir über Infektionskrankheiten denken", fügt er hinzu, "wird letztendlich zurückkommen und uns heimsuchen - und genau das passiert jetzt."

Dieser Artikel wurde von Meltem Sertatas aus dem Englischen übersetzt. Den Originaltext findet ihr hier.