Das Ende einer unglaublichen Leidenszeit
Wenn am kommenden Dienstag der kleine „asc-Springerabend“ in Darmstadt über die Bühne geht, dann wird eine lange Leidenszeit ihr Ende finden.
Die Stabhochspringerin Sarah Vogel wird dann nach sage und schreibe 612 Tagen erstmals wieder bei einem Wettkampf den Stab in den Händen halten, über die Latte fliegen, den Applaus genießen.
Dass Vogel auf internationalem Parkett noch nicht durchstartete, liegt an ihrer Verletzungsmisere, die eine Zwangspause von ebenjenen 612 Tagen notwendig machte.
Als sie 2021 sensationell U20-Europameisterin wurde, schien Vogels steile Karriere programmiert – was dann aber kam, nahm das ZDF für eine Doku mit dem Titel „Gnadenlos: Was der Profisport abverlangt“ zum Anlass.
Die heute 21-Jährige erlebte schon in jungen Jahren die Schattenseiten ihres Sportlerdaseins und musste sich im vergangenen Jahr einer Fußoperation unterziehen, die ihr eine komplette Saison zunichtemachte.
Im SPORT1-Interview berichtet Vogel über die schwierige Zeit, den Neuanfang zwischen Freude uns Skepsis – und warum sie Olympia in Paris trotz aller Rückschlägen fest im Blick hat.
Vogel vor erstem Wettkampf seit September 2021
SPORT1: Frau Vogel, die erste Frage nach Ihrer Vorgeschichte betrifft natürlich die Gesundheit. Wie geht es Ihnen aktuell?
Vogel: Sehr gut. Ich bin wieder nahezu komplett fit und plane in einer Woche in die Saison einzusteigen.
SPORT1: Wo wird das sein?
Vogel: In Darmstadt, bei einem ganz kleinen Springer-Meeting, um für mich selbst wieder ein bisschen Sicherheit zu gewinnen. Es wird mein erster Wettkampf seit September 2021.
SPORT1: Freuen Sie sich schon oder überwiegt die Aufregung?
Vogel: Beides. Natürlich sind große Unsicherheiten und die Anspannung da, weil ich gar nicht einschätzen kann, was passieren wird. Und weil mir auch klar ist, dass es einige Zeit brauchen wird, bis ich wieder im Rhythmus bin und die Trainingsleistungen auch zeigen kann. Aber irgendwo muss man ja anfangen (lacht).
Vogel spricht über ihre Pläne nach dem Comeback
SPORT1: Sie haben sich also keine bestimmte Höhe vorgenommen, oder?
Vogel: Nein, ich will erstmal eine Standortbestimmung machen, dass man irgendwas hat, von dem man ausgehen kann. Und dann kann man weitersehen in den nächsten Wochen.
SPORT1: Sind denn die Deutschen Meisterschaften schon ein Thema, wenn es gut läuft?
Vogel: Ja, definitiv. Da planen wir ganz fest, an den Start zu gehen. Unsere Deutschen U23-Meisterschaften sind auch die Qualifikation für die U23-EM in diesem Sommer. Und dann sind vier, fünf Tage später schon Deutschen Meisterschaften in Düsseldorf und da planen wir auf jeden Fall auch zu springen.
SPORT1: Was wäre, wenn Sie sogar schon die Qualifikationshöhe für die WM schaffen würden? Würden Sie dann nach Budapest fahren?
Vogel: Ja, definitiv.
Olympia in Paris? „Glaube noch fest daran“
SPORT1: In der ZDF-Doku merkt man, dass Sie fast alles auf die Olympischen Spiele in Paris ausgerichtet haben. Sind Sie aktuell schon zuversichtlich, dass es klappen könnte?
Vogel: Natürlich ist es ein sehr großer Traum, der einen auch tagtäglich motiviert und begleitet. Ich bin aber schon so realistisch, dass ich weiß, dass es sehr, sehr schwer wird. Und gerade mit meiner Vorgeschichte umso schwerer - aber ich glaube trotzdem noch fest daran.
SPORT1: Wie zermürbend ist es, wenn man merkt, dass der eigene Körper nicht so mitmacht, wie man will? Sie hatten in Ihren jungen Jahren schon einige Verletzungen.
Vogel: Es ist ein ständiger Kampf zwischen Kopf und Körper, bei dem man wirklich sehr, sehr genau auf sich hören muss, gerade im Leistungssport, wo es eben darum geht, über seine Grenzen hinauszugehen. Und wie weit man über die Grenzen hinausgehen kann, beziehungsweise wann es einfach zu viel für den Körper ist.
„Es wird einem einfach nichts geschenkt“
SPORT1: Hadert man da auch mal mit dem Schicksal?
Vogel: Definitiv. Natürlich sieht man dann die anderen Sportler und denkt, „Bei denen läuft alles so viel besser und die sind nie verletzt und die halten viel mehr aus als ich“ – und zu einem Großteil stimmt das auch. Man kriegt aber auch nicht immer alles mit, was bei den anderen so passiert. So ist der Leistungssport einfach. Da muss man einfach für sich selbst den richtigen Weg finden und der war ja bis jetzt nicht ganz erfolglos, glaube ich.
SPORT1: Die ZDF-Doku trägt ja den Namen „Gnadenlos“ und bezieht sich auf den Profisport. Würden Sie das so unterschreiben?
Vogel: Auf jeden Fall. Es wird einem einfach nichts geschenkt. Man muss sich alles selbst erarbeiten. Und wenn man dann im Stadion steht, dann zählen keine Umstände, dann interessiert es keinen, was gestern war oder dass man einen schlechten Tag hat. Dann zählt einfach nur noch die Leistung.
SPORT1: Wie oft kam Ihnen schon der Gedanke, dass alles zu viel wird?
Vogel: So zu viel, dass ich der Meinung war, ich muss jetzt mit irgendwas aufhören, definitiv nicht. Dafür bin ich, glaube ich, noch jung und energetisch genug – und auch zu optimistisch.
U20-Europameisterin: „War ein ganz komisches Gefühl“
SPORT1: Was macht die Faszination beim Stabhochspringen aus?
Vogel: Für mich ist es eine Harmonie zwischen Springer und Stab. Bei allen anderen Disziplinen, zum Beispiel beim Weitsprung, ist es so, dass man beim Absprung nichts mehr ändern kann an seinem Schicksal. Bei uns ist es aber so, dass auch während des Sprungs noch so viel korrigiert werden kann. Nur weil man vielleicht den Anlauf nicht perfekt getroffen hat, ist der Sprung noch nicht verloren – was natürlich immer eine Chance, aber auch eine große Herausforderung ist.
SPORT1: Sie waren schon in ganz jungen Jahren sehr erfolgreich und wurden U20-Europameisterin. Können Sie sich noch an den Augenblick erinnern, als der Sieg feststand?
Vogel: Ja, es war ein ganz komisches Gefühl, weil es einerseits total überraschend kam und ich im Vorfeld nicht damit gerechnet hatte. Aber irgendwo ganz tief im Inneren wusste ich, dass es ein sehr guter Wettkampf werden würde, weil ich wusste, was ich kann. Ich glaube auch für meine Trainerin war es am allerwenigsten überraschend, weil sie sich einfach so sicher war, was in mir alles drinsteckt und rauskommen muss. Da ist auch sehr viel Druck abgefallen in dem Moment. Dass dann alles zusammenkam, war auch viel Erleichterung, glaube ich.
Das änderte sich mit dem Wechsel zur Eintracht
SPORT1: Ihr Vater betreut Sie auch im Training. Hilft Ihnen das in solchen Augenblicken, wenn wieder mal ein Rückschlag kommt, weil er Sie so gut kennt oder ist das eher hinderlich?
Vogel: Das ist schon gespalten. Klar profitiere ich extrem davon, dass er mich kennt, gerade in Wettkampfsituationen, weil er mit am besten weiß, wie ich mich fühle und auf bestimmte Situationen reagiere. Andererseits steckt in ihm auch immer die Vaterseite. Es ist schwer damit umzugehen, dass ich in dem Moment „schuld“ bin, dass er traurig oder enttäuscht ist. Es belastet das Verhältnis auf jeden Fall. Gerade, weil die Grenze zwischen Vater und Trainer dann irgendwie verschwimmen. Wenn man dann zu Hause sitzt und jetzt eigentlich den Vater bräuchte, aber man weiß, dass es natürlich gleichzeitig auch der Trainer ist.
SPORT1: Was hat sich für Sie geändert, seit Sie zu Eintracht Frankfurt gewechselt sind?
Vogel: Bis jetzt hauptsächlich das andere Trikot. Ich erlebe ein sehr großes Gemeinschaftsgefühl. Schon, wenn man in die Halle kommt und wir dann alle die gleichen Trikots tragen. Man kann sich für einen größeren Menschenkreis freuen, wenn man die Ergebnisse anguckt und sieht „Oh, der ist ja von uns“ und nicht mehr „Oh, der ist ja von der Eintracht“. Was das Training betrifft, hat sich eigentlich nichts verändert. Ich trainiere nach wie vor an den gleichen Standorten, mit den gleichen Trainern, mit den gleichen Leuten.
Fünf Meter? „Das liegt noch weit in der Zukunft“
SPORT1: Hatten Sie schon hin Kontakt mit den Fußballern der Eintracht?
Vogel: Nein, das hat sich noch nicht ergeben. Ich habe nur Trainer Oliver Glasner mal getroffen, aber die Fußballer noch gar nicht.
SPORT1: Ihre Bestleistung liegt aktuell bei 4,30 Meter. Wo glauben Sie, liegen Ihre Grenzen?
Vogel: Ich habe letztens von unserem Biomechaniker gehört, dass er mir zutraut, fünf Meter zu springen. Das liegt aber noch weit in der Zukunft. Ich glaube, ich habe meine Grenzen noch lange nicht erreicht und mein ganzes Potenzial noch lange nicht ausgeschöpft, aber es ist natürlich immer noch ein großer Weg zu gehen. Ich würde jetzt nicht sagen, dass es eine bestimmte Grenze nach oben gibt. Da ist schon das Potenzial da, auch mal sehr hochzuspringen.