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Causa Erdogan – wie der Konflikt in der Türkei eine deutsche Kleinstadt spaltet

Sie musste nicht lange überlegen, welchem der Kandidaten sie ihre Stimme geben würde. Azize Göz, die von sich sagt, sie sei eine überzeugte Demokratin, hat sich entschieden, gar nicht zu wählen. Obwohl der Ausgang ihr Leben stark beeinflussen dürfte. Die Wahl könnte sie mehr prägen als viele ihrer türkischen Landsleute, die in den vergangenen Wochen in Fahrgemeinschaften ins Generalkonsulat nach Köln fuhren, wo die Urnen stehen.

Göz blieb trotzdem zu Hause, an ihrem Heimatort, dem oberbergischen Bergneustadt, 60 Kilometer östlich von Köln. Die Mittdreißigerin mit dem dunklen Zopf und der legeren Bluse sagt, ihr fehle das Vertrauen, dass die Stimmauszählung diesmal fair ablaufen werde.

„Beim Türkei-Referendum im vergangenen Jahr gab es Unregelmäßigkeiten zugunsten von Erdogans AKP. Diese Wahl ist noch wichtiger für Erdogan. Warum sollte es diesmal fairer zugehen?“

Am Sonntag finden in der Türkei zum ersten Mal zugleich Parlaments- und Präsidentschaftswahlen statt. 1,4 Millionen Türken in Deutschland konnten bis Mitte dieser Woche wählen, fast jeder Zweite hat seine Stimme abgegeben.

Viele begreifen die Wahl als ihr ganz persönliches Gefecht. Auch Göz ist seit Wochen angespannt – obwohl sich das Ergebnis mehrere 1.000 Kilometer entfernt auswirken wird und vermeintlich wenig mit Deutschland zu tun hat. Doch seit Teile des türkischen Militärs vor zwei Jahren einen Putsch gegen Präsident Recep Tayyip Erdogan versucht haben, hat sich auch in Bergneustadt alles verändert. Für Menschen wie Göz und Abdulhamit Karatay.

„Gülen-Anhänger hier nicht willkommen“

Als ihn am 15. Juli 2016 die ersten Anrufe aus der Türkei erreichen, durchströmen Gefühle der Trauer, Wut, Angst seinen Körper – alles gleichzeitig. Schüsse knallen in der Ferne, Menschen schreien, einige weinen. Karatay telefoniert mit der Familie, mit Freunden, Bekannten. Sie wollen wissen, ob deutsche Nachrichten darüber informieren, was bei ihnen in der Türkei gerade passiert. Weshalb plötzlich Panzer durch Istanbul rollen, Soldaten Brücken sperren, Kampfjets im Tiefflug über Ankara donnern.

Der Bergneustädter liebt die Türkei. Am liebsten wäre er jetzt dort, um zu verhindern, dass „Terroristen“, so nennt er die Anhänger der Hizmet-Bewegung, sie zerstören. Die Bewegung, die von Imam Fethullah Gülen gesteuert sein soll, machen staatliche Stellen schnell für den Putsch verantwortlich.

Am selben Abend sitzt Azize Göz am Küchentisch der Eltern – nur ein paar Hundert Meter entfernt von Karatay, der im Akkord telefoniert. Göz gehört zur Hizmet-Bewegung, ihr geistiger Führer: Fethullah Gülen. Eine Freundin aus der Türkei habe sie angerufen, von „totalem Chaos“ berichtet. Da ahnt sie noch nicht, wie schnell sich das auch in Bergneustadt auswirkt.

Als sie am nächsten Morgen aus dem Fenster ihres Elternhauses blickt, hängt in der Auslage der türkischen Bäckerei gegenüber ein Schild: „Gülen-Anhänger hier nicht willkommen.“

Auch Bürgermeister Wilfried Holberg dämmert es spätestens am Samstagmorgen, dass die Unruhen in der Türkei das Zusammenleben in seiner Stadt erschüttern werden. Nach dem Anruf eines Ratsvertreters – eine Menschenmenge habe sich auf dem zentralen Graf-Eberhard-Platz versammelt –, steigt Holberg in seinen dunkelgrauen Audi und fährt die wenigen Kilometer von seinem Wohnort dorthin. Als Holberg eintrifft, flattert an der Sparkasse eine etwa zehn Quadratmeter große Türkei-Flagge.

Holberg, ein kompakter Mittsechziger, zaudert nicht lang. Er lässt die Fahne entfernen. Er läuft von der Sparkasse die Kölner Straße entlang bis zu der türkischen Bäckerei mit dem Nicht-willkommen-Schild. Inzwischen hängt auch beim türkischen Metzger ein solches im Schaufenster.

Holberg sucht die Bäckerei als Ordnungsbehörde auf und lässt das Schild von den Inhabern entfernen. „Das sind Relikte einer Zeit, die wir in Deutschland nicht mehr erleben wollen“, sagt er zu ihnen. Die Schilder verschwinden aus den Auslagen. In den Köpfen aber bleiben sie bis heute.

In Bergneustadt zeigt sich, warum sich türkische Innenpolitik so unmittelbar auf Deutschland auswirkt, warum sich türkischstämmige Menschen, die hier in mittlerweile dritter Generation zusammenleben, plötzlich anfeinden, weit weg von den Konflikten in der Türkei. Knapp 20 Prozent der 19.000 Einwohner Bergneustadts haben türkische Wurzeln. Im Bundesschnitt sind es zum Vergleich nicht mal drei Prozent.

Die Kleinstadt schmiegt sich in die sanfte Hügellandschaft des Oberbergischen Landes. Das historische Zentrum mit dem denkmalgeschützten Fachwerk gibt den Blick frei auf gepflegte Gärten und Kühe, die träge auf den Weiden grasen. Problemviertel wie Duisburg-Marxloh und Berlin-Neukölln sind hier ganz weit weg. Die meisten Türken in Bergneustadt haben Arbeit, viele beim örtlichen Automobilzulieferer Metalsa, andere haben eigene Geschäfte oder Handwerksbetriebe. Besser als in Bergneustadt, so scheint es, kann Integration kaum gelingen.

„Achtung, Videoüberwachung“

Doch die Gewalt an dem Putschwochenende und die von Präsident Erdogan angeordnete „Säuberung“ von Behörden, Hochschulen, Militär und Polizei von Umstürzlern haben nicht nur in der Türkei die Spannungen zwischen Kurden, Gülenisten, Erdogan-Anhängern, Aleviten, Kemalisten und Nationalisten verschärft. Auch in Bergneustadt brodelt es.

Bewohner berichten, wie sich türkische Nachbarn plötzlich aus dem Weg gehen. Erdogan-Fans nicht in den Geschäften der politischen Gegner einkaufen – und umgekehrt. Sich sogar Eheleute im Streit entzweien. Familien, Nachbarschaften – durch eine ganze Stadt fressen sich Risse. Verstärkt zeigen die Animositäten sich, wenn in der Türkei ein politisches Großereignis bevorsteht wie die Wahlen am Sonntag.

Und sie machen noch etwas anderes sichtbar: den Irrglauben, Integration gelinge von allein. Die Hoffnung, dass große Zuwanderergruppen, über Dekaden weitgehend sich selbst überlassen, schon irgendwann mit den Einheimischen zusammenwachsen.

Und so leben Göz, Karatay und ihre Landsleute zwar mitten in Bergneustadt, Tür an Tür, und doch irgendwie in ihrer eigenen Welt. Getrieben vom Misstrauen den anderen gegenüber. Göz hat gute Gründe für ihre Vorsicht. Der Imam der örtlichen Moschee soll Göz und andere Mitbürger bespitzelt und seine Erkenntnisse nach Ankara geschickt haben. Die Bundesanwaltschaft ermittelte, der Imam setzte sich in die Türkei ab.

Die Gülen-nahe „Aktive Lernhilfe“ in Bergneustadt, eine Bildungseinrichtung für Kinder und Jugendliche, galt dem Imam dabei als „ein Hort des Bösen“. An der Eingangstür hängt ein Schild: „Achtung, Videoüberwachung“. Im Foyer hängen bunte Fotos von Freizeitveranstaltungen, einer Reise nach Istanbul, einem Sardellenfest.

„Landesverräter“, „Terroristen“, das seien noch die harmlosesten Beschimpfungen, die sie oder ihre Hizmet-Mitstreiter nach dem 15. Juli 2016 auf Facebook zu lesen bekommen hätten, sagt Göz. Vor dem Putsch unterrichtete die Aktive Lernhilfe etwa 80 türkische Kinder in Mathe, Englisch, Deutsch. Danach meldeten Eltern ihre Kinder reihenweise ab, es blieben nur 20 übrig.

Wegen der geringen Schülerzahl und aus Sicherheitsgründen für die Familien, erzählt sie, habe der Verein die Nachhilfe komplett eingestellt, die Räumlichkeiten würden für kleinere Programme und für Flüchtlings-Integrationskurse der Bundesregierung genutzt.

Azize Göz erzählt in ruhigen Worten, wie ihrer und der Name einer Kollegin auf einer Liste auftauchten, die der Imam in Bergneustadt erstellt hatte: „Meinem Cousin, der in der Türkei ohne Grund für eineinhalb Jahre inhaftiert war, legte man die Liste beim Verhör vor und fragte ihn über uns aus.“

Vor dem Verfassungsreferendum 2017, in dem die Türken darüber abstimmten, ob der Präsident mehr Macht bekommen soll, sei die Stimmung in Bergneustadt wieder „ähnlich aufgeheizt“ gewesen wie nach dem Putsch. Einige Bekannte hätten sich distanziert. In der Moschee, die ein neutraler Ort für alle Muslime sein sollte, sei es plötzlich zu Hasspredigten gegen Gülen-Leute gekommen.

Der Imam, der das Land Ende 2016 verließ, hatte einem Familienmitglied gar „dringlichst empfohlen“, Abstand von der Hizmet-Bewegung zu nehmen. Dies wäre sicherlich besser für die Kinder. Mit entsprechender Sorge blickt sie auf Sonntag. „Ich habe den Eindruck, dass je nach Ausgang der Wahlen die Stimmung wieder kippen könnte“, sagt Göz.

Keine Gewalttaten, aber an der Oberfläche brodelt es

Es gibt unterschiedliche Meinungen darüber, wie angespannt die Lage tatsächlich ist, ob sie sich gar in Gewalt entladen könnte. Gabriela Graf ist bei der Polizei im benachbarten Gummersbach die Kontaktbeamtin für muslimische Institutionen. Sie kennt die türkischen Bewohner in Bergneustadt und Umgebung seit Jahren. Sie will das Vertrauensverhältnis zu ihnen nicht gefährden, daher möchte sie nicht zu konkret werden.

Graf, kurzes Haar, tiefe Stimme, neigt schon von Berufs wegen nicht zu Alarmismus. „Es gab keine Gewalttaten, aber unter der Oberfläche brodelt es“, sagt sie. Aus Grafs Sicht überträgt sich die Situation aus der Türkei „eins zu eins nach Deutschland“. Die Skepsis untereinander habe insgesamt zugenommen, man traue den eigenen Nachbarn nicht mehr, was sie an düstere Zeiten in Deutschland erinnere. „Ich mache mir schon Sorgen“, sagt sie, „dass das Mitmenschliche verloren geht.“

Bürgermeister Holberg gehen die Reibereien in seiner Stadt nahe, auch, weil er die Hintergründe nicht so richtig durchdringt. Die türkischen Vereine in seiner Stadt, die Community insgesamt, das alles sei für ihn undurchsichtig „wie eine Blackbox“.

Damit die Spannungen zwischen den türkischen Gruppen nicht eskalierten, hat er einige der geplanten politischen Veranstaltungen aus Sicherheitsgründen nicht genehmigt. „Es verwundert mich, aber Gott sei Dank gab es bis heute keine gewaltsamen Auseinandersetzungen in Bergneustadt“, sagt er.

Dass es im Vergleich zum Referendum 2017 dort in diesem Wahlkampf vergleichsweise ruhig blieb, liege sicher auch daran, dass Wahlkampfveranstaltungen türkischer Politiker diesmal verboten waren. Holberg sagt, er wolle im Gespräch bleiben und einen Weg finden, „dass der Deckel auf dem Aggressionstopf“ geschlossen bleibe.

„Es erschreckt mich zutiefst, wenn ich höre, dass Menschen sich nicht mehr trauen, ihre Meinung zu sagen. Ich werde nicht zulassen, dass die Konflikte über die Entwicklung in der Türkei in Bergneustadt ausgetragen werden und dadurch unser Zusammenleben massiv beeinträchtigen.“

Nach dem Putsch wandte sich Holberg an den Moscheeverein, der ihm versichert habe, nicht politisch, sondern ausschließlich religiös zu sein. Holberg nehme die Beteuerungen zwar wahr, aber nach der Flucht des „Spitzel-Imams“ glaube er daran nicht mehr.

Seitdem wurden in der Türkei mehr als 50.000 Menschen inhaftiert, darunter viele Journalisten. Dazu wurden mehr als 150.000 Staatsbedienstete suspendiert oder entlassen. Erhalten Betroffene eine Begründung für ihre Inhaftierung, lautet sie fast immer: Unterstützung einer terroristischen Vereinigung.

Der von Präsident Erdogan verhängte Ausnahmezustand gilt bis heute. Durch die Einführung eines Präsidialsystems im vergangenen Jahr konnte Erdogan seine Macht noch weiter ausbauen. Gewinnt er bei den vorgezogenen Parlamentswahlen am Sonntag, könnte sich die Türkei noch weiter von der EU entfremden. Die Verantwortlichen dort fürchten die Abwicklung des türkischen Rechtsstaates und seine Umwandlung in eine Autokratie.

Unterstützung für Erdogan – trotz Menschenrechtsverletzungen

Von dieser Sorge ist die Mehrheit der Türken in Bergneustadt weit entfernt. Sie unterstützen Erdogan, auch wenn dabei die Menschenrechte auf der Strecke bleiben. Warum ist das so, trotz mittlerweile vieler Jahrzehnte in der oberbergischen Kleinstadtidylle?

Einen der Gründe kennt Yunus Ulusoy, zuständig für demografischen Wandel, Migration und Arbeitsmarktfolgen am Zentrum für Türkeistudien und Integrationsforschung in Essen (ZfTI). Die erste Einwanderergeneration, die in den 1960er-Jahren nach Deutschland kam, stamme überwiegend aus ländlichen Regionen in der Türkei. „Das sind einfache und religiöse Menschen“, sagt der Forscher.

Gerade in den Ballungszentren in Nordrhein-Westfalen, wo Arbeiter für Kohle und Stahl gesucht waren, siedelten sich sehr viele Türken an, die aus den Bergbauregionen ihres Heimatlandes, insbesondere aus der Schwarzmeerregion, stammen. Dort liegen heute die Hochburgen der islamisch-konservativen AKP von Präsident Erdogan.

Lange spürten diese armen Menschen vom Land die Verachtung, mit der ihnen die politische Elite der Türkei begegnete. Erst Erdogan gab diesen Menschen das Gefühl, auch wichtig zu sein. Und zum Gefühl kamen handfeste Fortschritte: intakte Krankenhäuser, bessere Schulen und Straßen, auch in entlegenen Provinzstädten und Regionen.

Die Angst, all diese Wohltaten wieder zu verlieren, emotionale wie materielle, haftet im Kollektivgedächtnis der Schwarzmeertürken. Diese Mentalität hat sich auch bei vielen Türken in Bergneustadt erhalten.

Die zentrale Kölner Straße führt vorbei an Bäckereien, Restaurants, Supermärkten, einem Finanzdienstleister, einem Friseursalon, einem Taxiunternehmen, einer Schreinerei – alles fest in türkischer Hand. Ein junger türkischstämmiger Gastronom sagt beim Tee: „Ich habe fast mein ganzes Leben in Deutschland verbracht. Trotzdem fühle ich mich hier fremd.

Kaum lassen sich Türken wie die Nationalspieler Mesut Özil und Ilkay Gündogan neben Erdogan fotografieren, hagelt es Kritik von den Deutschen. Es ist gut, dass Erdogan Deutschland die Stirn bietet.“ Dass der öffentliche Aufschrei über das Foto daher rühren könnte, dass sich die Nationalspieler neben einem Autokraten haben ablichten lassen, lässt er nicht gelten.

„Daran liegt es nicht. Die Deutschen behandeln uns nicht wie ihresgleichen, aber haben ein Problem, wenn wir unsere Identität als Türken behalten wollen und das auch zeigen.“

Der Migrationsforscher Ulusoy, der mit neun Jahren aus der Türkei nach Deutschland gekommen ist, kennt Diskriminierung aus eigener Erfahrung. Doch auch wissenschaftliche Studien bestätigen, dass Türkischstämmige auf dem Ausbildungs- und Arbeitsmarkt benachteiligt werden.

Das gelte auch im Vergleich zu anderen Einwanderergruppen wie den Griechen oder den Italienern: „Die werden in Deutschland viel positiver angenommen als die Türken, obgleich ihre identifikatorische Integration, ihre Verbundenheit mit Deutschland, nicht besser ist.“ Im Vergleich zu diesen Gruppen war das Bild des Türken in Europa immer negativ belastet, auch aus historischen Gründen wie der Belagerung Wiens durch die Türken.

Dazu käme eine kulturelle Distanz zur Mehrheitsgesellschaft, die bei der Einwanderung von Türkischstämmigen ausgeprägter gewesen sei, gerade auch, weil die meisten Türken keine Christen, sondern Moslems sind. „Der Islam hat aktuell einen schweren Stand“, sagt Ulusoy.

In der Bäckerei, in der Göz das Anti-Gülen-Schild gesehen hat, duftet es nach Baklava. Es ist Ramadan, die Inhaber sagen, sie hätten keine Zeit, mit der Presse zu sprechen. Am frühen Abend werden die Fastenden reihenweise dort einlaufen, denn dann dürfen sie essen.

Bis dahin müssen die Fladen gebacken sein. Ein Kunde blickt auf einen Fernseher, der türkische Nachrichten zeigt. Erdogan spricht gerade vor einer Menschenmenge, aus der rote Fahnen ragen.

Der Kunde, ein Werkzeugmechaniker und Vater von drei Kindern, wendet sich vom Bildschirm ab. „Ein Urproblem, warum Türken in Deutschland bis heute nicht angekommen sind, ist die deutsche Presse“, echauffiert er sich. Dabei gerät er richtig in Rage.

Absolute Mehrheit für Erdogan ist keineswegs sicher.

Er springt auf und erdolcht mit seinem Autoschlüssel die warme Luft, die ein Ventilator träge im Raum verteilt. „Nie schreibt sie etwas Positives über die Türkei.“ Auch er berichtet von Diskriminierung, dem Lehrer, der ihn „nie drangenommen hat“. Und „dass Erdogan hinter uns steht“. Seit er regiere, gehe es der Türkei viel besser.

Die türkische Lira hat seit Jahresbeginn mehr als ein Fünftel zum US-Dollar eingebüßt. Dazu geführt haben unter anderem Aussagen Erdogans, wonach er im Falle eines Wahlsieges die Zentralbank stärker kontrollieren wolle. Das sorgt die Investoren. Genau wie der unklare Ausgang der Wahlen. Den Umfragen zufolge ist eine absolute Mehrheit für Erdogan im ersten Wahlgang keineswegs sicher. Sein Herausforderer von der CHP könnte den amtierenden Präsidenten in eine Stichwahl zwingen. Zugleich gefährden die anderen Parteien, die es über die Zehn-Prozent-Hürde schaffen könnten, die Hegemonie der AKP.

Doch unbestritten gelang es Erdogan und seiner AKP, die Türkei nach wenigen Jahren an der Macht aus einer schweren Wirtschaftskrise herauszuführen, die Hyperinflation einzudämmen und die Konjunktur zu beleben. Dazu setzte er zu Beginn seiner Amtszeit demokratische Reformen durch, die der Türkei 2005 den Status eines EU-Beitrittskandidaten bescherten, ein Prozess, der jedoch seit Jahren stagniert.

Einen türkischstämmigen Finanzdienstleister mit gegelten Haaren wundert das nicht. In Bergneustadt gehört er zu den Exoten, denn er sieht Erdogan kritisch. Er findet es „schrecklich, wie viele Menschen ohne vernünftigen Prozess in türkischen Gefängnissen sitzen“.

Das Gerede von den Brücken und Straßen, die Erdogan baue, kann er nicht mehr hören. „Jeder ist selbst dafür verantwortlich, sich zu integrieren, mir ist es ja auch gelungen“, sagt er. In seinem Wandregal stehen auch Bücher von Kafka, Cervantes oder Gorki, und er verfolgt auch kritische Medien.

Er beklagt sich darüber, dass seine Landsleute in Bergneustadt vor allem Erdogan-nahe Sender konsumieren, statt sich eine eigene Meinung zu bilden. Und Erdogan verstehe es nun mal, die Menschen für sich einzunehmen. Egal, was er tue, seine Landsleute verehrten ihn. Daher achte er peinlich darauf, mit seinen Kunden – darunter viele AKPler – nicht über Politik zu sprechen.

Was hat Erdogan, was Angela Merkel nicht hat? Wieso fühlen sich in Bergneustadt selbst Türken mit deutschem Pass, die hier geboren wurden, von ihm so angezogen? Und weshalb nehmen sie Kritik an Erdogan persönlich, werten sie gar als „Beschmutzung ihres Landes“, beleidigen seine Gegner?

Mehr als 63 Prozent der türkischen Wahlberechtigten in Deutschland stimmten beim Verfassungsreferendum im April 2017 für Erdogans Machtzuwachs, in der Türkei waren es nur 51 Prozent.

In der Tat hofiere Erdogan laut dem ZfTI-Papier Türkischstämmige anders als deutsche Medien und Politiker „mit einer symbolträchtigen und emotionalen Sprache“. Er gewinne den emotionalen Einbindungswettbewerb, „weil eine solche Rhetorik hierzulande nicht gängig ist“.

Zudem habe die Auslandsorganisation der AKP in jeder deutschen Großstadt Vereine, insbesondere im Ruhrgebiet. Moscheen binden konservativ-religiöse Teile der türkischen Bevölkerung an sich. Säkularer geprägte Türken, ein Beispiel ist der belesene Finanzdienstleister, sind dagegen nicht in eine einheitliche Organisationsstruktur eingebettet. Sie bleiben verstreute Einzelkämpfer.

Entscheidend für die Bindung der Deutschtürken an Erdogan ist aber, wie stark sich laut Ulusoy in der Diaspora Werte auch über Generationen konservierten. So identifizierten sich viele weiter mit dem ebenfalls aus einfachen Verhältnissen stammenden Politiker.

„Er verkörpert den starken, männlichen Führer, der dem Westen, in dem sich viele Türken wie Außenseiter fühlen, jetzt die Leviten liest.“ Ein Mann, so Ulusoy, der selbstbewusst auftrete, eine einfache Sprache spreche, das „Wir-Gefühl“ stärke.

Abdulhamit Karatay trägt ein weißes T-Shirt, das seine Muskeln noch betont. Gemeinsam mit einem Vorstandskollegen sitzt er an einem sonnigen Juni-Nachmittag im Islamischen Kulturverein. Eine türkische Flagge ist an die Wand gemalt, daneben drei schwarze Sichelmonde, das Symbol der Grauen Wölfe – eine türkische Bewegung, die deutsche Behörden als rechtsnational bis rechtsextrem einstufen.

An der Wand hängen die Bilder ihrer Gründer, dazu eine Überwachungskamera. An der Glasfront des Raums prangt das Wahlplakat des Kandidaten der „Nationalistischen Bewegung“ (MHP). Die Nationalisten haben Erdogan ursprünglich bekämpft, seit März formen sie jedoch eine Allianz mit der AKP, die ihnen den Einzug ins Parlament sichern soll.

„Angst? Das ist nur Laberei.“

Es geht um die Mitbürger aus der Hizmet-Bewegung, denen Karatay tiefes Misstrauen entgegenbringt. Karatay glaubt nicht, dass die Leute von der „Aktiven Lernhilfe“ sich ernsthaft sorgen. „Wenn einer hier in Bergneustadt irgendjemanden finden will, egal wo, findet er den. Es ist keine große Stadt. Also kann mir keiner erzählen, er hätte Angst. Das ist nur Laberei“, erregt er sich. Umgekehrt hätten er und seine Kollegen viel mehr Gründe, wachsam zu sein.

Abends säßen sie vor ihrem Verein, um zu verhindern, dass etwas passiere. Vor allem einen kurdischen Kulturverein in Gummersbach haben sie im Verdacht, für die PKK zu agitieren. Die Diskussion rankt sich um verbotene Symbole am Fenster des Vereins wie ein Öcalan-Plakat, das in Deutschland verboten ist.

Der Furor richtet sich nicht nur gegen die PKK, sondern auch gegen die Gülen-Bewegung, es fallen Beschimpfungen. Oder gegen die deutschen Medien.

Bei der Polizei in Gummersbach heißt es, bei Drohungen würde die Polizei nach einer Anzeige auch ermitteln. Öcalan-Plakate würden sofort konfisziert, wenn diese in der Öffentlichkeit sichtbar seien, ob bei Demonstrationen oder anderswo. Ob der kurdische Kulturverein PKK-nah sei, darüber könne man keine Auskunft geben. Bei einem Besuch vor Ort hängt dort jedenfalls kein Öcalan-Bild.

Aus Karatay strömt der Frust jetzt nur so. Er beschreibt, dass er bei der Arbeit gefragt werde, ob er einem Diktator wie Erdogan anhänge. „Dieses Mobbing“, das auch andere Türken an ihren Arbeitsstellen erführen, müsse aufhören.

Der parteilose Bürgermeister Holberg, den sie in der Stadt auch „Holli“ nennen, hält beide Hände an die Wangen, als er hört, wie viel Zorn sich unweit seines Rathauses angestaut hat. Inzwischen, sagt der 63-Jährige, sei er „desillusioniert, was die Tiefe der Integrationsfähigkeit angeht“.

Holberg ist dafür nicht verantwortlich. Doch in Bergneustadt erlebt er die Folgen verschlafener Integration. Und dass die Zeit eben nicht alle Wunden heilt, sondern nur verdeckt. Dass sogenannte „Parallelgesellschaften“ entstehen, wenn man ganzen Einwandergruppen homogene Wohnräume zuweist und sich dann nicht weiter um sie kümmert. Was in Bergneustadt passiert ist, kann sich jederzeit wiederholen. Gerade jetzt, wo Menschen in hoher Anzahl nach Deutschland flüchten.

Holberg seufzt. Er bezeichnet sich nach wie vor als Freund von Menschen anderer Herkunft. An eines glaubt er dennoch nicht mehr: dass Türken und Deutsche in seiner Stadt jemals enger zusammenwachsen werden.