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'Beispiellose Repressionen' - Belarus hofft auf EU und Russland

MINSK (dpa-AFX) - Der als "Europas letzter Diktator" verschriene Alexander Lukaschenko rutscht in Belarus nach mehr als drei Monaten Dauerprotesten immer tiefer in die Krise. Machtapparat und Demokratiebewegung stehen sich unversöhnlich gegenüber. Die Probleme in der Wirtschaft häufen sich - verstärkt durch die Corona-Krise. "Das Schlimmste aber sind die beispiellosen Repressionen, wie sie kein Land in Europa seit Jahrzehnten so gesehen hat", sagt der Minsker Politologe Waleri Karbelewitsch der Deutschen Presse-Agentur.

Auch deshalb ist bei vielen Menschen in Minsk die Hoffnung auf ein Machtwort aus Moskau groß. Offiziell ist Russlands Außenminister Sergej Lawrow bis Donnerstag routinemäßig zum Arbeitsbesuch in Minsk. Doch nach wochenlanger Polizeigewalt gegen friedliche Demonstranten und einer Bilanz von mehreren Toten, Hunderten Verletzten und mehr als 30 000 Festnahmen kann es auch Russland nicht egal sein, wie es bei seinem benachbarten "Bruderstaat" läuft.

Lawrow werde mit Lukaschenko auch über die innenpolitische Situation im Land sprechen, heißt es in Moskau. Russland schaut angesichts der bereits verhängten und noch drohenden EU-Sanktionen mit Sorge auf die Entwicklung bei den Nachbarn. Wegen der engen wirtschaftlichen Verbindungen befürchtet es längst Folgen auch für sich selbst.

"Nach außen wird Lawrow Russlands Unterstützung zusichern", sagt Karbelewitsch. "Aber es ist völlig klar, dass er im Auftrag Putins Druck ausüben soll, Vereinbarungen umzusetzen. Lawrow hat sicher eine Verwarnung dabei." Kremlchef Wladimir Putin hatte Lukaschenko aufgefordert, auf die Proteste einzugehen und eine Verfassungsreform umzusetzen. Lukaschenko soll dort Vollmachten abgeben und die Rolle des Parlaments und der Regierung stärken.

Doch der 66-Jährige, der sich nach der Präsidentenwahl am 9. August mit 80,1 Prozent der Stimmen zum Sieger erklären ließ, ist längst zu alten Breitseiten gegen Russland zurückgekehrt. "Lukaschenko brauchte nur die öffentliche Unterstützung Putins, um den Machtapparat samt Militär geeint zu halten", sagt der Politologe. "Er fühlt sich schon wieder sicher. Und er weiß, dass Putin ihn nicht fallen lässt, weil er der Revolutionen nicht zum Sieg verhelfen will."

Erst in der vergangenen Woche donnerte Lukaschenko in einem Interview, es werde keinen "Machttransfer" geben. Seit Wochen betont er, dass er in 26 Jahren an der Macht so viel aufgebaut habe in Belarus - und was einer liebe, das gebe er nicht her.

Dabei sieht etwa der Minsker Analyst Artjom Schraibman erste Risse im Machtapparat. Misstrauen und Grabenkämpfe hätten zugenommen, seit Lukaschenko viele Posten neu besetzt hat, darunter den des Innenministers. Zugespitzt habe sich die Lage zuletzt nach dem Tod des Aktivisten Roman Bondarenko. In Minsk kursieren Aufnahmen abgehörter Telefonate von Funktionären, die auf eine Verwicklung staatlicher Strukturen in den Fall hindeuten könnten.

Die Behörden stempeln Bondarenko weiter als Betrunkenen ab; Ermittlungen in dem Fall gibt es bis heute nicht. In Haft in Minsk sitzen dagegen jener Arzt, der Bondarenkos Blut analysierte und der Alkoholversion widersprach, und eine Journalistin, die über das Laborergebnis berichtete. Angesichts auch dieser Gewalt hofft die Demokratiebewegung um die Bürgerrechtlerin Swetlana Tichanowskaja weiter auf Russland als einflussreichsten Akteur in Belarus.

Die in ihrem Exil in der EU von westlichen Staats- und Regierungschefs unterstützte 38-Jährige gilt Millionen Menschen in Belarus als die eigentliche Siegerin der Präsidentenwahl. Und sie hatte Russland immer wieder aufgefordert, eine friedliche Machtübergabe zu unterstützten. Bisher hatte Moskau das stets abgelehnt. Doch nun hieß es aus belarussischen Oppositionskreisen, Tichanowskaja habe erstmals mit einem russischen Diplomaten bei den Vereinten Nationen ein Gespräch geführt.

Die Demokratiebewegung warnte nun mit Blick auf Lawrows Besuch wieder, dass ein Festhalten an Lukaschenko Russland das Wichtigste koste, was es habe: die Zuneigung der Menschen in Belarus. Soziologen in Minsk sehen in aktuellen Umfragen einen neuen Trend, nachdem sich die Zahl derer erhöht, die sich von Russland abwenden und stärker nach Westen in die EU orientieren. Die Zahl jener, die eine Vertiefung des russisch-belarussischen Unionsstaates wollen, sank demnach von September zu November um 11,6 Punkte auf 40 Prozent.