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Was Amazon so gefährlich macht

Es ist ein typischer Morgen in Seattles South Lake Union Viertel – seit acht Uhr wird gehämmert, gebohrt und geschweißt. Gekonnt schlängeln sich Radfahrer um die Kolonnen von Baufahrzeugen, die die engen Straßen blockieren. Noch vor ein paar Jahren war das Viertel nördlich von Seattles Innenstadt heruntergekommen. Nun entsteht hier, prahlt Bürgermeister Ed Murray stolz, das“ Manhattan der Westküste“.

Derzeit sind 26 Hochhäuser geplant. Größter Bauherr ist Microsoft-Mitgründer Paul Allen. Die Filetstücke hat sich Amazon für sein neuestes Hauptquartier gesichert. Im Herbst hat Gründer Jeff Bezos sein Büro in dem 37-stöckigen Glaspalast an der siebten Avenue bezogen, schräg gegenüber vom „Little Darlings“-Stripclub, dessen angeschlossener Sex-Shop mittels Leuchtreklame 20 Prozent Rabatt für Amazon-Mitarbeiter verspricht.

„Day One“ heißt Bezos neuer Büroturm, benannt nach seiner Lebensmaxime. Für den umtriebigen Unternehmer, der gerade dabei ist, Microsoft-Gründer Bill Gates als reichsten Mann der Welt abzulösen, ist stets „Tag 1“. Sein Konzern ist im ewigen Angriffsmodus, kapert immer neue Bereiche und verkauft neben Büchern längst auch Bikinis, Bohrmaschinen und Backöfen im großen Stil. Erst diese Woche hat Amazon mit seinem weltweiten Prime Day klar gemacht, um welche Größenordnungen es geht, wenn der Konzern seine Stammkunden zur Rabattschlacht lädt. Innerhalb von 30 Stunden wurden allein über die deutsche Plattform schwindelerregende 400.000 Spielwaren, 600.000 Sportprodukte und rund eine Million Bekleidungsartikel verkauft. Ein Rekord. Wieder einmal.

Wie kein zweites Unternehmen dominiert die Bezos-Truppe inzwischen das Online-Geschäft der westlichen Welt und schreckt die Konkurrenz. Vier zentrale Faktoren sind es, die Amazon so erfolgreich machen – und so gefährlich für die etablierten Player:

1. Omnipräsenz: Systematisch drängelt sich der Konzern in den Alltag seiner Kunden und verkauft ihnen nicht nur Produkte, sondern ist über das Kundenbindungsprogramm Amazon Prime für Millionen Nutzer schon heute eine permanente Anlaufstelle im Netz. Sie erledigen dort nicht nur ihre Einkäufe, sondern streamen Musik, schauen Videos und lesen Bücher über Amazon.

2. Hightech zementiert Amazons Dominanz. So pusht der Online-Player derzeit seine Alexa getaufte Sprachsteuerung, die auf Zuruf Musik abspielt, Nachrichten vorliest oder Produkte bestellt. Über Apps von Drittanbietern lässt sich der Sprachdienst zu einer Universalfernbedienung fürs vernetzte Heim ausbauen. Alexa dimmt auf Wunsch das Licht und steuert die Heizung - und verankert Amazon nebenher immer fester im Tagesablauf der Kunden.

3. Vertikalisierung: Amazon deckt in immer mehr Bereichen die komplette Wertschöpfungskette ab - von der Produktion über die Logistik bis zum Verkauf. Vor allem in jenen Segmenten, denen der Konzern strategische Bedeutung beimisst, ergänzen mehr und mehr Eigenmarken das Sortiment.

4. Kooperationen: Teile und herrsche, lässt sich ein Grundprinzip von Amazon umschreiben. Amazon stellt anderen Händlern seine Plattform zur Verfügung, um eigene Ware loszuschlagen und vermietet die Rechenleistung seiner Server an andere Unternehmen. Allein in Deutschland nutzen 330.000 Unternehmen und Einzelkämpfer derlei Services. Sie bescheren Amazon nicht nur zusätzliche Einnahmen, sondern steigern zugleich das Produktangebot auf der Seite und geben dem Konzern Hinweise auf neue Trends.


Nur Edeka und Rewe erzielen mehr Umsatz

Der Erfolg der Vierfachstrategie dürfte sich in den kommenden Jahren in den Bilanzen des Online-Giganten niederschlagen. Nach Daten des Marktforschers Planet Retail, die der WirtschaftsWoche vorliegen, ist ein Ende des Siegeszugs jedenfalls nicht in Sicht. Im Gegenteil: „Amazon wird nach unseren Prognosen in den kommenden Jahren in Deutschland weiter zweistellig wachsen", sagt Planet-Retail-Experte Boris Planer. „Inklusive der Verkäufe von Drittanbietern über den Amazon-Marketplace ist der Konzern schon heute Deutschlands sechstgrößter Händler und wird sich bis 2022 auf Platz drei vorarbeiten", so Planer. Nur die Supermarktketten Edeka und Rewe würden dann in Deutschland noch mehr Umsatz erzielen.

Den Aufstieg in Deutschlands erste Handelsliga lässt sich der Konzern einiges kosten. "Seit 2010 haben wir hierzulande acht Milliarden Euro in Anlagen und Infrastruktur investiert", sagte Deutschlandchef Ralf Kleber der WirtschaftsWoche. Amazon zählt damit zu den größten ausländischen Investoren in Deutschland. "Allein dieses Jahr werden wir hier 2000 Arbeitsplätze schaffen und somit bis Ende 2017 rund 16.500 Mitarbeiter beschäftigen", kündigt Kleber an. Die zusätzlichen Leute kann er gut gebrauchen, schließlich hat sich sein Chef Bezos gerade den größten Brocken im Handel vorgeknöpft: das milliardenschwere Geschäft mit Lebensmitteln - und Kleber soll für ihn den deutschen Markt aufmischen.

Der Start des Lebensmittellieferdienstes Fresh vor wenigen Wochen in Berlin und Potsdam gab bereits einen Vorgeschmack. Kleber will Amazon Fresh nun „auch in weiteren Regionen Deutschlands verfügbar machen“. In den nächsten Wochen könnte München folgen, heißt es in der Branche. Auch das Ruhrgebiet mit Städten wie Bochum und Dortmund gilt als Fresh-Kandidat. Das „positive Feedback der Kunden“ in Berlin bestätige den Kurs, sagt Kleber.

In den USA geht der Konzern noch einen Schritt weiter. Erst vor wenigen Wochen versetzte Bezos die Aktienmärkte mit seiner Ankündigung in Wallung, die US-Feinkostkette Whole Foods zu übernehmen. Kaum war die Nachricht raus, begann bei der Konkurrenz der Ausverkauf: Rund 30 Milliarden Dollar Marktwert vernichtete Bezos' Coup bei den Konkurrenten, Aktienanalysten sprachen von einem „Erdbeben“ im Brot-und-Butter-Business.

Denn der Deal könnte die Spielregeln in dem Milliardenmarkt völlig neu schreiben. Die 1980 in Texas gegründete Bio-Supermarktkette betreibt 431 Märkte vornehmlich in den USA, aber auch Kanada und Großbritannien. Deren Lage in amerikanischen Innenstädten ist ganz auf ihre gutverdienende Kundschaft ausgerichtet, die sich ihre exorbitanten Preise leisten können. Eine ideale Klientel Amazon, das viele seiner Abholstationen bereits direkt an Supermärkten eingerichtet hat. Whole Foods passt damit in die Logistik-Offensive des Online-Konzerns, der in vielen US-Großstädten wie auch in Deutschland mittlerweile die Lieferung seiner Waren am gleichen Tag oder sogar innerhalb von wenigen Stunden offeriert.

Wird der Deal von den US-Wettbewerbshütern genehmigt, steigt Amazon aus dem Stand zur fünftgrößten Supermarktkette der USA auf, mit einem Marktanteil von etwa 3,5 Prozent. Branchenprimus ist die Supermarktkette Kroger aus Cincinnati mit einem Umsatz von 115 Milliarden Dollar. Mit seiner Expansion in den Lebensmittelhandel sucht Bezos nicht nur die Konfrontation mit Walmart, Safeway, Target und Kroger, sondern auch mit Aldi und Lidl, die gerade ihr Ladennetz in den USA erweitern.

Ohnehin sind die US-Händler ob der Amazon-Experimente im Lebensmittelhandel alarmiert. Sechs Kilometer nördlich vom neuen Hauptquartier, in Seattle Ballards Viertel, testet der Konzern seit Ende Mai „Amazon Fresh Pickup“, wo seine Kunden Lebensmittel innerhalb von 15 Minuten nach Online-Bestellung selbst abholen können.


Walmarts Wettstreit mit Amazon

Die an einem Parkplatz gelegene Abholstation wirkt von Weitem wie ein Starbucks-Cafe. Nur dass an der Fassade das leuchtend grüne „Amazon Fresh Pickup“ Logo prangt. Direkt daneben befinden sich die Abholinseln, die wie eine angeschlossene Tankstelle aussehen.

Statt Zapfsäulen stehen dort Amazon-Mitarbeiter in grünen Kittelschürzen mit Papptüten voller Bestellungen. Alle paar Minuten fahren neue Kunden vor und lassen sich die Tüten in den Kofferraum hieven. Es ist eine von zwei Abholstationen - eine weitere befindet sich südlich von Seattles Innenstadt – die als Blaupause für das Ausrollen in weiteren US-Großstädten genutzt werden sollen.

Eilig reagierte Wal-Mart-Chef DougMcMillon mit einem eigenen Projekt. „Wir werden mit Technologie konkurrieren, aber mit unseren Mitarbeitern gewinnen“, schmetterte McMillion auf seiner Aktionärsversammlung Anfang Juni in Fayetteville im US-Bundesstaat Arkansas.

Dort stellte sein neuer Online-Handelschef Marc Lore einen Service vor, den Walmart derzeit in Miami, Denver und Phoenix offeriert. Walmart-Kunden ordern dort online Lebensmittel, müssen allerdings nicht selber vorfahren, sondern können sich das gewünschte Sortiment von einem Uber oder Lyft-Fahrer zu Hause vorbeibringen lassen.

Es ist Lores erster großer Aufschlag in Walmarts Wettstreit mit Amazon. Im August erwarb Walmart für 3,3 Milliarden Dollar seinen Online-Händler Jet.com, vor allem wegen Lores Expertise. Denn dieser weiß wie Bezos tickt. Für 545 Millionen Dollar hatte der Amazon-Gründer Anfang der Dekade Lores erstes großes Start-up, den Windel-Vermarkter Quidsi übernommen. Ursprünglich wollten Lore und sein Mitgründer Vinit Bharara nicht verkaufen.

Doch Bezos konterte mit einem ruinösen Preiskampf und setzte sich schließlich durch. Teil des Kaufvertrages war, dass die Quidsi-Gründer für mindestens anderthalb Jahre für Amazon arbeiten mussten. Kurz danach verließ das Duo Amazon. Lore gründete Jet.com, dass ihn noch vermögender machen sollte. „Ich habe nichts gegen Jeff“, sagt Lore. Schließlich hat der Mann ihn reich gemacht. Trotzdem hat er diebische Freude daran, Bezos über seinen neuen Arbeitgeber Walmart die Suppe zu versalzen.

Er soll auch hinter der Idee stecken, Amazon wichtigste strategische Waffe zu attackieren. Mittels Amazon Web Services vermietet Amazon Rechenkapazität an Unternehmen, eine wahre Goldmine, die derzeit fast den gesamten Profit des Konzerns erwirtschaftet. Walmart hat hinter den Kulissen seine Zulieferer aufgefordert, stattdessen konkurrierende Dienstleister wie Microsoft, Google oder IBM zu nutzen – und so vielleicht doch noch dafür zu sorgen, dass in Bezos Reich dereinst Tag 2 anbricht.

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